Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vergessliche Mörderin

Die vergessliche Mörderin

Titel: Die vergessliche Mörderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
verrückt, oder Sie wirken verrückt, oder Sie glauben, verrückt zu sein, oder Sie könnten verrückt sein. Das will aber noch gar nichts heißen. Heutzutage kommt das häufig vor, und im Allgemeinen ist es leicht zu kurieren. Starke seelische Belastungen, Sorgen, Überarbeitung oder begründeter Hass auf den Vater oder die Mutter können die Ursache sein. Und natürlich Liebeskummer.«
    »Ich habe eine Stiefmutter, die ich hasse, und ich fürchte, ich hasse auch meinen Vater. Ein bisschen viel, was?«
    »Fast alle Menschen hassen irgendjemand«, sagte Poirot. »Und wahrscheinlich haben Sie Ihre Mutter sehr geliebt. Ist sie geschieden oder tot?«
    »Sie ist vor über zwei Jahren gestorben.«
    »Und Sie hingen sehr an ihr?«
    »Ja. Vermutlich. Nein, natürlich habe ich an ihr gehangen. Sie war leidend und musste oft in ein Sanatorium.«
    »Und Ihr Vater?«
    »Mein Vater war lange im Ausland. Als ich fünf oder sechs war, ist er nach Südafrika gegangen. Ich glaube, er wollte sich scheiden lassen, aber Mutter hat nicht eingewilligt. Weihnachten hat er mir immer geschrieben und mir Geschenke geschickt. Das war alles, was ich von ihm gehört habe. Er – ich konnte ihn mir nie richtig vorstellen. Vor einem Jahr ist er zurückgekommen, weil er das Geschäft meines Onkels übernehmen musste. Und da – brachte er eine neue Frau mit.«
    »Dagegen hatten Sie etwas?«
    »Ja.«
    »Aber da war Ihre Mutter doch schon tot. Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass ein Mann zum zweiten Mal heiratet. Besonders, wenn er viele Jahre von seiner ersten Frau getrennt gelebt hat. Wollte er sich wegen seiner jetzigen Frau von Ihrer Mutter scheiden lassen?«
    »Nein, die ist noch ziemlich jung. Sie sieht sehr gut aus, aber sie tut so, als gehöre ihr mein Vater!« Nach einer Weile fuhr sie mit veränderter, fast kindlicher Stimme fort: »Ich hatte gedacht, dass er sich jetzt nach seiner Rückkehr mal um mich kümmern würde, dass er mich gern hätte… aber das lässt sie nicht zu. Sie ist gegen mich. Sie hat mich rausgedrängt…«
    »In Ihrem Alter spielt das doch keine Rolle mehr. Im Gegenteil – es ist vielleicht sogar gut. Sie stehen auf eigenen Füßen, Sie können sich Ihre Freunde selber aussuchen…«
    »Sie kennen meine Eltern nicht, sonst würden Sie das nicht sagen! Vor allem, was die Wahl meiner Freunde betrifft.«
    »Fast alle Mädchen werden wegen ihrer Freunde kritisiert«, erklärte Poirot.
    »Ich darf gar nicht an früher denken.« Norma seufzte. »Mein Vater ist ganz anders, als ich ihn in Erinnerung hatte. Damals hat er immer mit mir gespielt und war so lustig. Jetzt ist er gar nicht mehr lustig, sondern düster und schroff und – ach, eben ganz anders.«
    »Das muss auch fünfzehn Jahre her sein. In der Zeit ändern sich die Menschen.«
    »Andern sie sich so sehr?«
    »Ist er denn äußerlich auch verändert?«
    »Nein, das nicht. Kein bisschen! Auf dem Bild, das hinter seinem Stuhl hängt, sieht er genauso aus wie heute, bloß jünger natürlich. Aber ich habe ihn eben anders in Erinnerung gehabt.«
    »Ach, wissen Sie, mein Kind«, sagte Poirot behutsam, »die Menschen sind nie so, wie man sie in Erinnerung hat. Im Laufe der Jahre formt man sie immer mehr nach den eigenen Wünschen um, und schließlich werden sie so, wie man sich an sie erinnern möchte. Man macht sie besser, als sie es je waren.«
    »Glauben Sie? Glauben Sie das wirklich?« Nach einer Pause fragte sie plötzlich: »Aber aus welchem Grund könnte ich, Ihrer Meinung nach, jemand umbringen wollen?« Es klang völlig natürlich. Jetzt sind wir endlich an einem entscheidenden Punkt angelangt, dachte Poirot.
    »Eine interessante Frage«, entgegnete er, »und der Grund kann auch sehr interessant sein. Aber eine Antwort wird Ihnen darauf wohl nur ein Arzt geben können. Ein sehr guter Arzt.«
    Sie reagierte sofort. »Ich gehe zu keinem Arzt. Mich bringen Sie zu keinem Arzt! Die anderen wollten mich auch zu einem Arzt schicken, und dann wäre ich in eine Anstalt gekommen und für immer eingesperrt worden. Dazu kriegen Sie mich nie!« Sie war auf dem Sprung, aufzustehen und fortzulaufen.
    »Das liegt auch weder in meiner Absicht noch in meiner Macht. Wenn Sie wollen, können Sie freiwillig einen Arzt aufsuchen. Sie können hingehen und ihm das sagen, was Sie mir erzählt haben, und ihn nach dem Grund fragen. Vielleicht kann er ihn Ihnen nennen.«
    »Das hat David auch gesagt. David sagt auch, ich sollte es tun, aber ich glaube nicht, dass er – es wirklich

Weitere Kostenlose Bücher