Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
in seine Richtung. Blut tropfte auf sein Hemd.
Geh weiter, Christoph, befahl ihm eine leise innere Stimme, geh weiter, verdammt.
Christoph hatte sich nicht vorstellen können, dass er es bis zu seinen Schwestern schaffen würde, doch es war ihm gelungen. Friedel, den er glücklich im elterlichen Hof antraf, hatte ihm vom Gartenhaus erzählt. Nun saß er am Küchentisch seiner hochschwangeren älteren Schwester gegenüber und erzählte, während ihm unaufhaltsam Tränen über die Wangen liefen.
»Ich habe ihm nicht geholfen, Marianne, ich habe es einfach geschehen lassen. Ich habe zugelassen, dass sie ihn fast totprügelten.« Er riss die Augen auf, als könne er damit allem Schrecken Ausdruck verleihen. »Ich wollte eine bessere Welt und bin doch keinen Deut besser als die, die ich bekämpfen wollte.«
»Sei nicht so streng mit dir.«
Marianne fuhr ihm sanft über den Arm. Christoph schüttelte den Kopf.
»Eine Wache hat sich seiner schließlich angenommen«, fuhr er fort. »Man hat ihn zu einem Bauernhaus gebracht.«
Er musste husten.
»Du musst mir das nicht erzählen«, sagte Marianne leise.
»Ich will es aber.« Christoph wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Seine Tränen schienen langsam zu versiegen. »Auch seine Frau und ihr kleiner Sohn entgingen der furchtbaren Misshandlung nur knapp, heißt es, und weißt du was, ich kann dir noch nicht einmal sagen, ob ich ihnen geholfen hätte.« Er lachte bitter auf. »Ich bin ein Feigling, ein elender Feigling! Sag mir, wie können wir eine bessere Welt schaffen, wenn wir so miteinander umgehen?«
Marianne schwieg.
»Wirst du heute noch weiterziehen?«, fragte sie endlich.
Christoph nickte. »Ich muss … Solche wie mich sperrt man jetzt ein, Schwesterchen, in Mainz wurden unsere Häuser geplündert, und es regnete Prügelsuppe. Man schleppte unsereins ins Zuchthaus und auf die Türme. Manche wurden halb totgeprügelt, aber das weißt du ja …«
Christoph sah seine Schwester lange und traurig an. Er hatte das Mainz nicht mehr gekannt, das er verlassen hatte. Jeder, der nur entfernt mit den Klubisten in Verbindung gebracht werden konnte, war seines Lebens und Eigentums nicht mehr sicher gewesen. Einzelne Bürger, aber auch ganze Banden gingen dieser Tage auf Klubistenfang, die Denunziationen nahmen kein Ende.
»Wann werden wir uns wiedersehen?«, fragte Marianne vorsichtig.
Christoph zuckte die Achseln. »Ich weiß es noch nicht. Irgendwann, ja?« Er zögerte kurz. »Wie geht es den Eltern?«
Marianne zuckte die Achseln. »Vater weigert sich, mit mir zu sprechen. Mutter tut es nicht, weil er es ihr verbietet. Helene sagt, es geht ihnen den Umständen entsprechend gut.«
Christoph nickte.
»Und, hast du seit seiner Flucht etwas von Gianluca gehört?«
Noch bevor er die Frage beendet hatte, brach nun Marianne in Tränen aus. Sie fragte nicht, von wem er es erfahren hatte. Von Helene? Von Friedel? Er hatte ja auch nichts von der Schwangerschaft gewusst, aber er war der Erste gewesen, der sie beglückwünschte.
»Nein, nichts«, sagte sie. »Er ist wie vom Erdboden verschluckt.« Sie schluchzte heftig. »Es tut mir leid, aber ich vermisse ihn doch so, und mit Helene kann ich darüber nicht sprechen.«
Christoph nickte, dann nahm er seine Schwester in den Arm.
»Pass auf meinen Neffen auf«, flüsterte er in ihr Ohr.
»Deine Nichte«, entgegnete Marianne heiser.
Christoph zögerte, dann nickte er nochmals.
Es waren wirre Zeiten. Zeiten, in denen mancher unterging und nie wieder zum Vorschein kam. Er wollte ihr nicht widersprechen. Vielleicht würden sie einander nie wiedersehen.
S iebtes Kapitel
Die Geburt fing mit einem leichten Ziehen im Rücken an, von dem Marianne erwachte und das sie zuerst verwirrte. Fast kam es ihr so vor, als hätten ihre monatlichen Beschwerden eingesetzt. Als es stärker wurde, weckte sie Helene. Verunsichert warteten die Schwestern eine Weile, was weiter geschehen würde, dann machte die Jüngere sich auf den Weg, die Hebamme zu rufen. So schnell sie konnte, rannte sie zuerst zurück zum Hof. Sie bat Friedel um einen Karren, mit dem sie die alte Käthe zum Gartenhaus fahren konnten. Dort angekommen, fanden sie Marianne immer noch in der Schlafkammer vor, angstvoll auf die Pfütze starrend, die sich auf dem Boden zwischen ihren Beinen gebildet hatte.
»He ho«, rief Käthe aus, »das Kindchen kommt tatsächlich.«
Mit einer bestimmten Bewegung verwies sie Friedel des Zimmers und forderte Helene auf, heißes
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