Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
solide. Dieses Mal ist die Sache sicher.«
Einen Moment lang war es still, dann war wieder Wilhelms Stimme zu hören.
»Wie werden wir weiter vorgehen? Ich möchte wirklich so bald wie möglich heiraten.«
Heiraten, so, so, dachte Johanne, ihre Familie hatte offenbar weitreichende Pläne. Ihr Bruder hatte bei seinen letzten Worten wie ein kleines Kind geklungen, das nicht auf sein Spielzeug warten konnte. Arme Claire … Das Lachen ihrer Mutter ließ Johanne hochschrecken.
»Ruhig, ruhig, mein Lieber«, sagte die, »ich habe einen Plan. Erinnerst du dich noch an Dr. Sartorius?«
Johanne hatte sich bemüht, ungesehen das Haus zu verlassen, doch es war ihr nicht gelungen. In der Halle, auf dem Weg zum hinteren Dienstboteneingang, lief sie Frau Hallhuber in die Arme, die strikt darauf bestand, die gnädige Frau müsse sie sprechen.
Wenig später standen Mutter und Tochter einander im Salon gegenüber. Über Noras Schulter hinweg sah Johanne ihren Bruder im Wintergarten sitzen. Ihre Mutter musterte sie argwöhnisch.
»Wo wolltest du denn hin, zu dieser Zeit?«
Johanne antwortete nicht.
»Wenn du dich wunderst«, fuhr Nora fort, und nur ein kaum merkliches Zucken ihres rechten Augenlids zeigte ihre innere Anspannung, »ich habe Frau Hallhuber heute beauftragt, dich nicht ohne mein Wissen vor die Tür zu las sen. Wohin wolltest du also?«
Johanne schwieg. Ihre Mutter rückte ein paar Schritte von ihr ab, doch der Graben, der zwischen ihnen be stand, war längst tief genug. Johanne fröstelte unvermittelt.
»Ist dir kalt?«
In der Stimme ihrer Mutter klang jene Liebenswürdig keit mit, die sie für entfernte Bekannte vorbehielt. Johanne schüttelte den Kopf, beobachtete ihre Mutter nun an der Anrichte, wo sie eine der oberen Schubladen aufzog, einen Mechanismus drückte und das Geheimfach aufspringen ließ. Johanne wandte den Blick ab. Als im nächsten Mo ment wieder die Stimme ihrer Mutter zu hören war, zuckte sie zu ihrem Ärger zusammen.
»Willst du immer noch nach Berlin, ans Theater? Wir würden es dir finanzieren, Vater und ich. Was hältst du davon?«
Die Worte ließen Johanne herumfahren. Fassungslos starrte sie ihre Mutter an.
»Es gäbe natürlich ein paar Voraussetzungen«, fuhr die mit einem Lächeln fort.
Johanne war mit einem Mal übel.
N euntes Kapitel
Claire konnte nicht sagen, warum sie, als sie die Stimme an der Tür gehört hatte, in ihr Kinderzimmer gerast und in den großen Kleiderschrank geklettert war, als sei sie noch ein kleines Mädchen. Wenn man sie hier fand, kam es ihr in den Sinn, dann musste man wohl tatsächlich an ihrem Verstand zweifeln. Eine Zwanzigjährige, die sich in einem Kleiderschrank versteckte.
Sie hörte, wie sich Schritte näherten. Erst die kräftigen eines Mannes, dann die trippelnden ihrer Mutter.
»Ist sie wirklich nicht hier?«
Dr. Sartorius … Sie kannte ihn aus dem Haus Neuber ger, ein Nervenarzt, der sich moderner Methoden rühmte. Ein- oder zweimal hatte Claire mit ihm gesprochen. Er war ihr unheimlich gewesen, als bedürfe er mehr der Behandlung als seine Patienten.
»Ich würde wirklich gerne einmal mit Ihrer Tochter reden«, sagte er nun. »Die letzten Monate können nicht leicht für sie gewesen sein.«
»Sie ist …«, setzte ihre Mutter an. Claire hielt den Atem an. »… nicht hier«, vollendete Aurelia. Claire presste sich die Hand vor ihren Mund und drängte den Laut der Erleichterung zurück.
»Frau Mylius«, war im nächsten Moment wieder Dr. Sartorius’ Stimme zu hören, »wissen Sie zufällig, wo sie sich gerade aufhält?«
»Nein.«
Kurz herrschte Stille, dann war erneut der Doktor zu hören.
»Ich sage das nicht gerne, Frau Mylius, aber ich glaube, Ihre Tochter benötigt dringend Hilfe. Sie hat mehrfach versucht, sich unerlaubt ihrer Tochter zu nähern. Sie hat sie entführt und auf einem Bauernhof versteckt, der, um es höflich auszudrücken, primitiv genannt werden sollte. Würden Sie mir bitte Bescheid geben, wenn sie wieder auftaucht? Sonst muss ich die Sache an die Behörden wei tergeben.«
Claire horchte, doch ihre Mutter schwieg nun. Als wenig später die Wohnungstür ins Schloss fiel, wartete sie noch etwas, bevor sie aus ihrem Versteck kletterte.
Aurelia stand in der Küche und starrte durch das kleinere Fenster in die Ferne. Claire wartete einen Moment, doch ihre Mutter machte keine Anstalten, sie zu bemerken.
»Danke, Mama«, sagte sie leise.
Aurelia würdigte ihre Tochter immer noch keines Blicks.
»Wieso
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