Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Rike und Claire hatten wieder einmal länger miteinander geredet. Auch nach Monaten war Rikes Misstrauen gegenüber der Mut ter nicht gänzlich verschwunden.
Claire lächelte, als sie nun auf dem einzigen Liegestuhl auf dem Balkon Platz nahm, und schloss die Augen. In der Küche überprüfte Rike unterdessen den Inhalt der Schränke. Es gab ein paar Kleinigkeiten, die frühere Gäste zurückgelassen hatten. Einen großen Topf und ein paar kleinere, eine Pfanne, Teller, Tassen und Besteck für etwa sechs Personen. Der kleine Gasherd funktionierte auf An hieb. Es roch etwas abgestanden, doch der Geruch würde bei geöffnetem Fenster sicher rasch verfliegen. Jetzt mussten sie nur noch das Gepäck holen.
»Gehen wir?«, fragte Lea zu Rike gewandt. »Neele hat gut getrunken, sie wird eine Weile schlafen und kann bei Claire bleiben.«
Rike nickte und war schon an der Tür, während Lea noch einen letzten Blick auf ihre Tochter warf.
Die Ferienwohnung lag in unmittelbarer Nähe des Meeres. Inzwischen war es noch dämmriger geworden. Etwa zwanzig Minuten später, sie hatten sämtliches Gepäck herübergetragen, war die Sonne untergegangen, und die Stra ßenbeleuchtung ging an. Rike stellte sich schweigend an den Herd und braute Lea und sich einen Espresso, den sie gemeinsam tranken.
»Ich würde heute Abend gerne kochen«, sagte sie dann.
Lea schaute sie kurz fragend an, dann erinnerte sie sich, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen ihre Mutter sehr gerne und gut gekocht hatte.
»Klar«, erwiderte sie mit einem Lächeln.
Rike nahm einen Schlüssel von dem kleinen Schlüsselbrett und nickte ihrer Tochter zu.
»Bis gleich.«
Vom Fenster aus sah Lea ihr hinterher und fragte sich, wann auch das letzte bisschen Steifheit zwischen ihnen verfliegen würde.
Eigentlich hatte sie nur rasch einkaufen wollen, doch dann ließ Rike sich Zeit, durch die Gassen der kleinen Stadt zu schlendern. Gegen die Abendkühle hatte sie sich eine dünne lange Strickjacke angezogen. Sie dachte daran, dass sie das Vorhaben hierherzufahren für Blödsinn gehalten hatte, doch jetzt, nein, schon auf der Fahrt hatte sie ihre Meinung geändert. Die lange Zeit, die sie so eng miteinander hatten verbringen müssen, war rascher und unproblematischer vergangen als erwartet. Sie hatten sich Kleinigkeiten erzählt, hatten geflachst. Manchmal, wenn sie etwas Zeit für sich gebraucht hatte, hatte sie sich auf ihre Enkelin konzentriert. Das kleine Mädchen war inzwischen bald drei Monate alt und ein munterer Fratz.
Rike betrat den ersten Laden und blieb staunend bei den Gemüseauslagen stehen. Sie fand, dass das Essen einladender roch und aussah als zu Hause. Vielleicht kaufte sie deshalb später auch zu viele Nudeln, zwei Liter Rotwein und dreimal süßen Pudding.
An diesem Abend gab es gefüllte Nudeln mit Butter und Parmigiano, Spaghetti mit Tomatensauce und Gnocchi zu in Butter geschwenktem Basilikum. Claire und Rike tranken Rotwein, Lea Wasser. Die drei Frauen redeten viel und mieden die problematischen Themen. Spät erst gingen sie zu Bett. Anders als in den Nächten zuvor schlief Rike sofort ein.
Z weites Kapitel
Aus der Nähe kam der charakteristische, leicht scheppernde Klang einer Kirchturmglocke, die Lea schon am Tag zuvor gehört hatte. Eine sanfte Brise vom Meer wehte zum Fenster herein, vermischte den Duft von Salz, Basilikum und Piniennadeln. Sie hatte gestern nur mit Mühe einschlafen können und sich noch eine Weile auf dem großzügigen Ausziehsofa in der Wohnküche hin und her gewälzt, während es in der restlichen Wohnung bereits still war. Trotz der langen, anstrengenden Fahrt war sie früh auf gestanden. Neele rührte sich nicht.
Einen Moment lang beobachtete Lea ihre friedlich schlafende Tochter, dann kochte sie sich einen Espresso, trat ans Fenster und schaute der Stadt beim Erwachen zu.
Es war Sonntag. Ein paar einsame Spaziergänger waren unterwegs, meist Hundebesitzer, außerdem ein paar Kin der. Lea sah einen geschlossenen Eissalon. Vor einem Lokal waren Tische und Stühle aufeinandergestapelt und mit Ketten gegen Diebstahl gesichert. Ein kleiner dreirädriger Fiat tuckerte etwas entfernt über eine höher gelegene Straße.
Wieder einmal jagten sich Leas Gedanken. Was erwarten wir, hier zu finden?, fragte sie sich erneut. Etwas, was es nur hier zu finden gibt? Etwas, was in uns steckt?
Aus Rikes Zimmer heraus war leises Rumoren zu hören. Kurze Zeit später stand Leas Mutter in ihrer üblichen lan gen, weit fallenden
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