Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
dieser Moment, in dem sie Gianlucas Hand an ihrer spürte, eine zarte Berührung im Schutz des Dreispitzes, den er immer noch in der Hand hielt. Seine Stimme war so leise, dass man sie nur einen Schritt entfernt sicher nicht mehr hören konnte.
»Ich vermisse dich, Marianne, ich musste jeden Tag an dich denken. Hast du mich nicht auch vermisst? Nicht ein kleines, kleines bisschen? Warum willst du hierbleiben?«
Marianne zog ihre Hand zurück, hielt die Kokarde jetzt mit beiden Händen fest.
Ach Gott, würden die Eltern sie noch vermissen, wenn sie wussten, was sie getan hatte? Würden sie sie auch dann noch willkommen heißen, wenn sie wussten, dass sie einen Bastard unter dem Herzen trug, dass sie Schande über die Familie brachte? Sie hatte immer geglaubt, sich der Liebe von Mama und Papa stets sicher sein zu können. Nun zweifelte sie daran.
Es kostete sie Mühe, ihn anzusehen.
»Ich bekomme ein Kind, Gianluca«, sagte sie so leise, wie auch er zu ihr gesprochen hatte.
Zuerst meinte sie gar nichts in seinem Gesicht lesen zu können, dann lächelte er.
»Ich kann dich nicht umarmen«, sagte er, »aber ich würde es jetzt gerne tun.«
Marianne biss sich auf die Unterlippe. »Was tun wir«, flüsterte sie dann, »Gianluca, was tun wir jetzt nur?«
Z ehntes Kapitel
Wie immer war Helene früh erwacht. Heute kam er zurück, sie wusste das, heute würde sie Gianluca endlich wiedersehen. Natürlich in Begleitung von Marianne, aber darüber wollte sie nicht nachdenken, noch nicht und jetzt nicht. Sie wollte auch nicht über die Zeit nachdenken, die die beiden gemeinsam alleine auf der Reise verbracht hatten und in der sie – womöglich – Gemeinsamkeiten entdeckt hatten. Als der Vater sich entschlossen hatte, den Italiener nach der Schwester auszuschicken, war es Helene zuerst gewesen, als habe man ihr in den Magen geschlagen. Schon während der Weinlese hatte sie den Vater öfter recht vertraulich mit Gianluca sprechen sehen und sich nichts dabei gedacht. Mittlerweile aber hatte der Vater eindeutig Gefallen an dem Italiener gefun den. Nun, vielleicht war das auch nicht das Schlechteste.
Helene seufzte. Ach ja, es war leichter gewesen, mit Gianluca zu sprechen, während die Schwester in Mainz weilte. Sie hatte sich einfach während seiner Pausen zu ihm gesetzt und sich von seiner Heimat erzählen lassen. Sie hatte ihm einen Krug gewässerten Weins gebracht, während er eine Mauer des Ziegenstalls reparierte, oder Brot und Schinken, während er das Dach flickte. Sie hatte ihn lachen sehen, während er überschwänglich nach den ersten dünnen Schneeflocken haschte, und es war ihr gewesen, als lache er nur für sie.
Mit einer langsamen Bewegung legte Helene die graublaue Jacke zurück in die Truhe und wühlte nach der rostroten, die angeblich so gut zu ihren Haaren aussah. Eine Weile schon hatte sie an diesem Morgen vor dem Schrank verbracht, aber wenn sie heute ihr bestes Kleid anzog, würde die Mutter nur unnötig misstrauisch werden. Mit einem bedauernden Lächeln griff sie sich also den einfachen Rock zu der Jacke, gab sich aber besondere Mühe mit ihrem Haar und dem passenden Häubchen dazu. Rasch schlüpfte sie in Unterkleid und Rock, band sich die Bluse und zog die Jacke an, die sie mit zittrigen Fingern knöpfte, weil sie erneut die Vorfreude überfiel. Dann stellte sie sich vor den Frisiertisch und musterte ihr Spiegelbild.
Schmaler war sie geworden. Seit Marianne in Mainz weilte, hatte ihre Schwester sich süße Brötchen und zu viel Zucker eisern versagt. Eine junge Frau sah sie an, das runde Kindergesicht war fast vollkommen verschwunden. Nein, sie war kein Kind mehr, und auch Gianluca musste das endlich bemerken.
Für einen Moment malte Helene sich aus, wie sie ihrer Schwester entgegenlief. Und Gianluca natürlich. Es würde ganz unverfänglich aussehen. Sie konnte es kaum noch erwarten.
Mit einem Lied auf den Lippen sprang sie wenig später die Stufen hinunter. Der Vater stand im Eingang zu seinem bureau , die Stimme der Mutter war aus der Küche zu hören.
»Helene, Kind!« Auch im Dämmerlicht konnte sie sehen, dass sich Vaters Gesicht aufhellte.
Er freut sich, mich zu sehen, dachte sie. Ich habe mich geirrt, er liebt mich und freut sich, mich zu sehen. Sie nahm sich vor, nicht mehr schlecht von ihm zu denken. Er liebte sie doch genauso, wie er Marianne und Christoph liebte, wieso hatte sie sich eingebildet, er täte es nicht? Es war nicht gut, eifersüchtig zu sein.
»Geht es dir gut,
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