Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Geschichte? Unmöglich.« Er schüttelte den Kopf. »Weinbau, das konnte sich mein Onkel noch vorstellen, aber Geschichte …« Tom lachte erneut, aber es klang nicht echt. Nach kurzem Zögern trank er seinen Kaffee in einem Zug aus.
Lea teilte ihren Kuchen derweil mit der Gabel in immer kleinere Stücke.
»Und deine Eltern?«
»Meine Mutter ist früh gestorben. Ich habe kaum eine Erinnerung an sie. Mein Vater hat mich verlassen, als ich zwölf war.«
»Er hat was? Entschuldige.« Wieder einmal schämte sich Lea ihrer Neugier.
»Wieso? Es ist nicht deine Schuld. Er hat mich verlassen, ich nenne es so. Mein Vater wollte ein neues Leben, und da habe ich eben gestört. Dass ich bei meinem Onkel aufgewachsen bin, war aber nicht das Schlechteste.« Für einen Moment schien es, als wolle Tom noch etwas sagen, doch er schwieg. »Könnte ich noch etwas Kaffee haben?«, fragte er schließlich leichthin.
»Natürlich.« Lea schenkte ihm nach. »Ich habe Germanistik studiert«, sagte sie endlich und schaute nachdenklich zum Küchenfenster. Von dort aus konnte man den Hof sehen, das Tor, Weinberge. »Mit gutem Abschluss sogar.«
»Und?« Tom nippte an seinem Kaffee.
»Ich habe mir danach einfach nichts zugetraut und erst mal in dem Café weitergearbeitet, in dem ich schon während des Studiums gejobbt habe. Das kannte ich, vor allem anderen hatte ich Angst.«
Es war seltsam, sich so reden zu hören. Von ihrer Angst hatte Lea bisher niemandem erzählt. Mit den Fingerspitzen pickte sie ein paar letzte Kuchenkrümel auf.
»Was hättest du denn gerne gemacht?«
Lea wich Toms Blick aus. »Ach, ich weiß nicht.«
»Doch, ich bin mir sicher, dass du es weißt.«
Sie musterte ihn kurz, machte dann eine unentschlossene Bewegung mit dem Arm. »Das hier gefällt mir. Es gefällt mir, dieses Haus zu renovieren und dabei zu entdecken. Manchmal denke ich, man könnte ein Buch darüber schreiben und …«
O Gott, jetzt wurde sie albern. Lea brach ab. Was plapperte sie hier nur wieder daher, als sei sie noch ein kleines Mädchen, das von der Realität nichts wusste?
Tom aber nickte langsam.
»Ja, da könntest du recht haben. Eins ist mir übrigens noch eingefallen. Habe ich dir schon gesagt, dass man dieses Haus hier früher das traurige Haus nannte? Manchmal auch das Haus der Schwestern, dabei lebten hier nie Schwestern, soweit ich weiß.«
Lea horchte auf. »Hast du eigentlich mit deinem Onkel über die Vergangenheit des Gutes gesprochen?«
Tom schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber ich mach’s bald, okay? Wir haben ja jetzt schon einiges erledigt, sobald ich neues Material bestellen muss, red ich mit ihm, gut?«
Lea schaute nachdenklich zum Fenster. »Das könnte ja noch richtig spannend werden, ein altes Haus, seine Geschichte, und dann sind da ja noch die Briefe.«
Aber was hat das alles mit mir zu tun? Ich will wissen, was Claire vor mir verbirgt. Vor mir und Mama.
Tom nickte. Er wirkte entspannter als noch zu Anfang ihres Gesprächs. Dann wurde er von einem Moment zum anderen wieder ernst.
»Mit denen fangen wir an. Vorher muss ich aber leider noch ein, zwei Wochen weg. Ein Projekt«, er zögerte und schaute sie an, als erwarte er, dass sie nachfragte, »in Hamburg.«
Das angenehme Gefühl der Gemeinsamkeit verflog so rasch, wie es gekommen war. Leas erster Impuls war, genauer nachzufragen. Dann biss sie sich auf die Lippen. Es ging sie einfach nichts an.
»Na gut, auf ein paar Tage kommt’s nach so langer Zeit wohl nicht an.«
Das Lächeln misslang, sodass Lea sich abrupt zu ihrem Kuchen hindrehte. Marc schlich sich in ihre Gedanken. Sie war sich auf einmal sicher gewesen, dass er der Richtige war. Sie hatte sich geirrt. Es war immer möglich, sich zu irren. Warum sollte sie sich nicht auch dieses Mal geirrt haben?
Ich sollte wirklich nicht so viel an Tom denken.
Z weites Kapitel
Leas Schwangerschaft verlief bisher problemlos. Auch bei der zweiten Untersuchung waren die Werte gut gewesen, das Kleine entwickelte sich prächtig. Sie war jetzt in der 17. Woche und konnte, mit einer gewissen Großzügigkeit, erstmals daran denken, ihre Hose mit einem Haushaltsgummi zu erweitern. Nötig war es noch nicht, aber es tat gut, sich zumindest ein wenig »schwanger« zu fühlen.
Sie hatte gerade die Arztpraxis verlassen und überquerte eben die Straße, als sie eine wohlbekannte Stimme stocken ließ: Millie.
»Mönsch, Lea, was machst du denn hier um diese Zeit? Müsstest du nicht längst im Café sein? Ich wollte
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