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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Martin
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Stiften und den Papieren auf seinem Tisch gespielt hatte, waren lange vorbei. Bald würde sie eine verheiratete Frau sein – Claire fröstelte –, sie würde dieses Haus verlassen und wohl niemals mehr auf der Fensterbank sitzen. Als verheiratete Frau durfte man sicher nicht mehr auf der väterlichen Fensterbank sitzen. Sie schaute auf die Schreibtischplatte, wo ihr Vater frisch gespitzte Bleistifte aufgereiht hatte, die er dann wegräumen würde. Als sie noch jünger gewesen war, war es ihre Aufgabe gewesen, seine Bleistifte zu spitzen, wenn nötig, und sie hatte sie mit Hingabe erfüllt. Unvermittelt strich der Vater ihr über das Haar, und sie hätte sich am liebsten in die Berührung geschmiegt, wie das schutzbedürftige Kind, das sie einmal gewesen war und als das sie sich immer noch fühlte.
    »Claire, Liebes, du glaubst mir doch, dass ich immer das Beste für euch will?«
    »Natürlich, Papa.«
    Nun streichelte sie sein Gesicht im vergeblichen Versuch, die Traurigkeit daraus zu verbannen. Irgendetwas bereitete ihm Sorge, aber sie wusste nicht was. Er betrachtete sie mit seinen warmen Augen, und sie dachte daran, wie er sie früher ins Bett gebracht, sie getröstet, ihr Geschichten erzählt hatte. Alles Dinge, für die ihre Mutter Aurelia niemals Zeit gefunden hatte, denn dafür gab es schließlich Personal.
    Manchmal, so dachte Claire, war sie sicher, dass ihre Mutter eigentlich niemals Kinder gewollt hatte. Sie hatte »das Kind« bekommen, weil es dazugehörte. Danach war sie nie wieder schwanger geworden.
    »Warum schaust du so düster, mein Goldstück? Die Hochzeit wird wunderbar werden, und Wilhelm ist ein mehr als stattlicher Ehemann. Es ist eine gute Familie, es wird dir sicher an nichts mangeln.«
    »Ja …«, antwortete Claire gedankenverloren. Aurelias Bild blieb vor ihrem inneren Auge stehen. Als Wilhelm Neuberger um ihre Hand angehalten hatte, war ihre Mutter zum ersten Mal seit Langem zufrieden mit ihrer Tochter gewesen. Den ganzen Tag über hatte sie gestrahlt, und am nächsten hatte sie es ihren engsten Freundinnen im Salon erzählt.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass du einmal so eine gute Partie machst, Claire«, hatte sie abends zu ihrer Tochter gesagt. »Ich bin wirklich zufrieden mit dir.«
    Claire kämpfte gegen das Gefühl an, dass sie ihre Mutter sicherlich bald wieder enttäuschen würde.

V iertes Kapitel
    Claire Mylius und Wilhelm Neuberger heirateten im Juli 1930, und am Ende jenes Freudentages wusste Claire, dass man sich innerhalb weniger Stunden wie eine Prinzessin und wie eine Bettlerin fühlen konnte.
    Dabei hatte der Tag ausgesprochen gut begonnen. Der Vater hatte ein Telegramm geschickt, denn er befand sich gerade auf Kur in den Schweizer Bergen. Die Lungenprobleme, unter denen er seit dem Krieg litt, hatten sich akut verschlimmert, die Behandlung konnte nicht mehr aufgeschoben werden. Claire war traurig darüber gewesen, dass der Vater sie nicht als Braut sehen würde, doch sie wollte auch nicht undankbar sein. Die Heirat mit Wil helm Neuberger brachte sie schließlich auf der gesellschaftlichen Leiter einen wichtigen Schritt weiter nach oben. Ihre Mutter wurde nicht müde, dies zu betonen. Und Claire bemühte sich redlich, darin etwas Erfreuliches zu sehen und nichts, was ihr Angst machen musste.
    Aurelia Mylius jedenfalls weckte sie bester Laune. Lina, das Mädchen ihrer Mutter, half Claire in das Hochzeitskleid, frisierte und schminkte sie sogar ein wenig – so viel es einer Dame eben stand. Wilhelm hatte sich nicht lumpen lassen und das Brautkleid bezahlt, das Claire und ihre Mutter ausgesucht hatten. Es war modern, jedoch – aus Rücksicht auf Frau Neuberger – nicht zu modern. An den Füßen trug sie feine Stoffschuhe mit Schmuckspangen. Dazu ließ sie ihr blondes Haar zu einem dicken Zopf flechten, der, mit Blumen geschmückt, über ihre rechte Schulter drapiert wurde. Darüber kam der Schleier, der noch von Aurelias Großmutter stammte.
    Wilhelms erster Blick zeigte Claire, dass sie seinen Geschmack getroffen hatte, und sie verspürte ein seltsames, fast bestürzendes Gefühl der Erleichterung. Die Vorstellung, einfach wegzulaufen, die seit dem Erwachen am Morgen immer wieder durch ihre Gedanken gezuckt war, manifestierte sich erneut.
    Nach der Trauung versammelte man sich zum Essen. Eine schier unendliche Reihe von Speisen wurde an Claire vorbeigetragen, doch sie verspürte – anders als ihre Gäste – keinen Hunger. Wilhelm dagegen aß mit gutem Appetit. Danach

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