Die verlorene Koenigin
glaube nicht, dass Mum und Dad es gern sähen, wenn ich nachts mal eben ins Elfenreich verschwinde«, sagte sie mit einem Lächeln. »Schließlich muss ich, wie du weißt, um neun zu Hause sein.«
»Stimmt«, sagte Edric. »Schade, es würde dir sicher sehr gefallen.«
In diesem Augenblick bog ein dunkelblaues Auto um die Straßenecke. »Das sind sie«, zischte Tania. »Geh jetzt. Ich ruf dich an.«
Für einen richtigen Abschied blieb keine Zeit mehr. Edric ließ ihre Hand los und verschwand um die nächste Ecke. Tania ging schnellen Schrittes zur Schule und hoffte, dass ihre Eltern nicht zu viele Fragen über die erfundene Probe stellen würden.
»Ich kann einfach nicht glauben, dass Jack stirbt!«, rief Tania aus, als der Abspann von Titanic über den Fernsehbildschirm lief. »Er darf nicht sterben. Die beiden müssen doch glücklich bis ans Ende ihre Tage leben!«
Es war spät am Abend und sie hatte es sich auf der Couch im Wohnzimmer mit ihren Eltern gemütlich gemacht. Gerade hatten sie sich einen ihrer Lieblingsfilme auf DVD angesehen.
»Er muss aber doch sterben, damit die Geschichte richtig funktioniert«, sagte ihre Mutter. »So ist es doch viel romantischer.«
Tania runzelte die Stirn. »Was ist romantisch daran, wenn die Liebe deines Lebens ungefähr zehn Minuten, nachdem du sie kennengelernt hast, ertrinkt?«
Es waren schöne Stunden mit ihren Elter n – fast wie in alten Zeiten. Tania hatte beschlossen, die gute Stimmung nicht dadurch zu verderben, dass sie einen Ausflug zum Markt ankündigte. Keine Lügen mehr für heute.
Doch während Tania sich den Film angesehen hatte, hatte die Begeisterung nachgelassen, die sie beim Gedanken an ein bevorstehendes Wiedersehen mit Titania ergriffen hatte. Tania hatte sich nur schwer auf den Film konzentrieren können, weil sie stattdessen darüber nachdachte, wie es danach überhaupt weitergehen sollte.
Sie hatte Oberon versprochen, ins Elfenreich zurückzukehren, sobald sie die Königin aufgespürt hatten. Erwartete er daher, dass sie für immer dort lebte? Das konnte sie sich nicht vorstelle n – sie liebte ihre Mum und ihren Dad und konnte den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlassen. Doch sie konnte auch nicht gleichzeitig in beiden Welten leben.
Sie war Anita Palmer und Prinzessin Tani a – zwei Personen in einem Körpe r –, aber was bedeutete das?
Zuerst müssen wir uns darauf konzentrieren, Titania zu finden. Über den nächsten Schritt mache ich mir erst Gedanken, wenn es so weit ist.
»Ich geh dann mal ins Bett«, sagte sie, streckte und rekelte sich. »Es war ein langer Tag.«
Sie zog die Zimmertür hinter sich ins Schloss, machte aber kein Licht an. Sie trat ans Fenster. Am Nachthimmel waren unzählige Sterne zu sehen, deren Licht vom Vollmond überstrahlt wurde.
»Der Elfenmond ist größer«, murmelte sie. Edrics Worte fielen ihr ein: … in der ersten Nacht, wenn der Mond der Reisenden am Himmel stand, segelten immer alle Palastbewohner zur Insel Logri s …
Ob sie sich unbemerkt ins Elfenreich schleichen konnte? Nur für ein oder zwei Minuten, um den Mond der Reisenden zu sehen.
Mum und Dad würden es nie mitbekommen.
Was konnte schon passieren?
Sie machte den Seitwärtsschrit t …
V
T ania fand sich plötzlich in dem kleinen Turmzimmerchen wieder. Sie stieß einen unterdrückten Freudenschrei aus. Der Vollmond strahlte so hell durch das Fenster, dass sein Licht harte Schatten an die Wand warf. Zahllose Sterne überzogen den pechschwarzen Himmel mit flackerndem Silber. Nachts roch das Elfenreich seltsam und geheimnisvol l – eine Mischung aus verschiedenen Aromen, die sich zu einem harmonischen Ganzen vereinigten: der Eishauch ferner, schneebedeckter Gipfel, der erdige Duft von Waldlichtungen und der wilde Geruch nach weitem Heideland, das vom Wind gepeitscht und von Regenschauern durchnässt wurde.
Tania beugte sich aus dem Fenster und blickte über die Hügellandschaft, in der vereinzelt Bäume standen. Die Silhouetten von Türmen und Dächern des Palastes zeichneten sich wie schwarze Scherenschnitte vor dem Himmel ab, aber die Palastfenster waren von tausend Kerzen erhellt. Sie sahen aus wie funkelnde Diamanten, die auf dunklem Samt verstreut lagen.
Plötzlich drang ein Klingeln an Tanias Ohren, anfangs so leise, dass sie sich anstrengen musste, um es überhaupt wahrzunehmen. Es war das sanfte Bimmeln mehrerer Glöckchen.
Etwas bewegte sich zwischen den Bäumen hindurch. Tania entdeckte eine offene Kutsche, die von
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