Die verlorene Koenigin
außer einem haben heute Früh am Fortrenn-Quay Segel gesetzt. Das letzte fährt bald ab. Ich bin zurückgelaufen, um das hier zu holen.« Sie zog eine schmale Holzflöte aus den Falten ihres Kleides. »Das Fest der Reisenden wäre nichts ohne Musik«, sagte sie. Sie setzte die Flöte an die Lippen und spielte eine Folge klarer, fließender Töne.
»Ich wusste gar nicht, dass du so gut Flöte spielst.«
»Ich beherrsche alle Instrumente«, sagte Zara, dann riss sie die Augen auf und starrte entgeistert auf Tanias Kleidung.
»Meine Güte, was trägst du für Gewänder?«, fragte sie. »Eine Prinzessin in Beinlinge n – und in so einem dünnen Fetzen von Hemd, dass ein Windhauch genügen würde, um es davonzuwehen? Tania, in so einem Gewand kannst du dich unmöglich in der Öffentlichkeit sehen lassen. Das is t … das ist ganz und gar unschicklich!«
»So was ist ganz normal in der echte n … ich meine, in der Welt der Sterblichen«, sagte Tania. »Du glaubst, dass meine Aufmachung hier auf Ablehnung stoßen wird?«
»Gewiss! Beinkleider wie ein Hofnarr oder ein Diene r – das geht wirklich nicht! Wir müssen etwas Angemesseneres für dich finden. Und zwar rasch, sonst fährt die Wolkenseglerin noch ohne uns ab.«
»Die Wolkenseglerin ?«
Ein strahlendes Grinsen breitete sich über Zaras Gesicht. »Du erinnerst dich nicht an sie?«, fragte sie. Sie hakte Tania unter und ging mit ihr die Stufen hinab. »Dann wird das eine herrliche Überraschung, meine Liebe.«
»Entscheide dich, Tania, sonst kommen wir zu spät!«, schalt Zara sie.
Tania stand vor dem großen Kleiderschrank in ihrem Schlafgemach und bemühte sich, aus all den glitzernden Gewändern eines auszusuchen. Zara drängte, sie hatte Tania nicht mal ein paar Minuten Zeit gegönnt, um die Wandteppiche anzusehen, die an den holzgetäfelten Wänden hingen. Als Tania zum ersten Mal ins Elfenreich gekommen war, waren auf den Teppichen Bilder ferner Orte erschienen: Berge und wildes Heideland, Meereslandschaften und Eisschollen unter kaltem, nacktem Himmel. An jenem Tag, als Tania ihr Elfenerbe angenommen hatte, waren all diese Wandteppiche zum Leben erwacht: Der Wind hatte angefangen, durch die Bäume zu streichen, die erstarrten Wellen bewegten sich plötzlich, Wolken waren über den Himmel dahingezogen, Vögel in der Luft geflogen, Flüsse schäumend über Steinstufen hinweg ins Tal geschossen.
»Gib mir eine Minute!«, protestierte Tania und zog ein fliederfarbenes Kleid hervor. Es war schlicht und doch elegant, mit seinen violetten Stickereien, dem tiefen viereckigen Ausschnitt und den langen Ärmeln, die durch Zierstiche am Hauptteil befestigt waren. Sie hielt es sich an und warf Zara einen fragenden Blick zu.
»Ja, das sieht gut aus«, meinte Zara.
Tania entledigte sich rasch ihrer Kleidung und stieg in das Gewand. Zara stellte sich hinter sie und schnürte ihr das Mieder.
Sie fasste Tania an den Schultern und drehte sie im Kreis herum. »Ja, das ist viel besser«, sagte sie. »Jetzt bist du wieder eine Elfenprinzessin. Aber nun müssen wir lossausen, so schnell wie der Wind!« Sie nahm Tania bei der Hand und sie liefen hinaus. Zaras Begeisterung war ansteckend, und Tania lachte fröhlich, als sie die Gänge entlangflitzten, dass ihre langen Röcke nur so raschelten und ihre Haare wehten.
Keuchend blieb Zara vor einer vertrauten Tür stehen.
Tania sah ihre Schwester verblüfft an. »Das ist doch dein Zimmer«, sagte sie. »Ich dachte, wir müssten uns so beeilen, damit wir noch rechtzeitig zum Fest kommen.«
»Das sind wir auch«, sagte Zara mit glänzenden Augen.
»Aber wa s …«
»Mach die Tür auf!«
Verwirrt öffnete Tania die Tür.
Sie wusste bereits, wie Zaras Gemächer aussahen: Wände und Zimmerdecke zierten Bilder einer Meereslandschaft und auf die Holzdielen war ein Kieselstrand gemalt. Die Möbel waren mit Muscheln überkrustet und marineblau bezogen. Und all das lebte: ein Gemälde, das sich still bewegte.
Als sie die Tür nun öffnete, erwartete sie der vertraute Anblick. Allerdings war der Raum in den geheimnisvoll-dunklen Glanz der Elfennacht getaucht, während er bei ihrem ersten Besuch taghell gewesen war.
Als Nächstes fiel ihr auf, dass sie das Rauschen von Wellen hören konnte, die über die Kieselsteine strichen. Das letzte Mal hatten die lebenden Gemälde keinerlei Geräusch erzeug t – war dies nun ein neuer Zauber? Doch bevor Tania nachfragen konnte, merkte sie plötzlich, dass sie unter ihren bloßen Füßen
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