Die verlorene Koenigin
… und dass sie noch immer nicht ganz gesund war. In ihrer Brust brannte es wie Feuer; immer wieder entzündete sich der Schmerz und wanderte ihren Hals hinauf, dann wurde sie wieder von Hustenanfällen geplagt.
Sie ließ sich von Bess zu einer engen Passage führen, in der lauter kostümierte Männer standen, die alle in dieselbe Richtung blickten. Hinter einem Durchgang aus schrägen Holzlatten sah Tania die Bühne und den Zuschauersaal, die dicht gedrängten vertikalen Ränge und die runde Stehfläche, auf der sich andächtig lauschende Menschen tummelten.
Ihr Blick wanderte nach oben. Die Bühnendecke erschien ihr wie das reinste Wunderwerk: Die mitternachtsblauen Tafeln waren golden eingefasst und mit Sonnen, Sternen, Monden und Symbolen aller Tierkreiszeichen bemalt. Doch dann fesselte ein großer, gut aussehender Mann ihre Aufmerksamkeit. Er stand allein in der Mitte der Bühne, gekleidet in ein hermelinbesetztes Gewand und mit einer Krone auf dem Kopf.
»Vater!«, hörte sie sich selbst flüstern. »Das ist mein Vate r …«
Der Mann begann zu sprechen. Seine Stimme klang laut und fest.
»Nun ward der Winter unsers Missvergnügens’ Glorreicher Sommer durch die Sonne York s …«
Bess brachte ihren Mund nahe an Tanias Ohr.
»Das ist er«, flüsterte sie. »Richard Burbage persönlich, ein großartiger Mime und dein Vater. Sieht er nicht prächtig aus in seinen Gewändern und mit der Krone?« Sie legte Tania den Arm um die Schultern. »Ich sage dir, mein Lämmchen, dein Vater ist der beste Schauspieler, der je vor der Königin auftreten durfte.«
Tania starrte in das große runde Gesicht. »Du meinst Königin Titania?«
»Du meine Güte, nein, mein Kind«, sagte Bess mit einem kehligen Kichern. »Ich meine, Ihre Majestät, Königin Elisabeth, möge Gott sie schützen.«
»Oh.« Tania hatte das Gefühl, als entgleite ihr alles. »Wie schade. Ich dachte, du meinst Titani a … ich suche doch Titani a … und ich dacht e …«
»Tania?« Eine Stimme drang verzerrt an ihr Ohr, mit einem Nachhall wie ferner Donner. »Tania? Alles in Ordnung?«
»Edric?« Tania hatte das merkwürdige Gefühl, in ihrem eigenen Körper zu wachsen wie ein Schmetterling, der seinen Kokon durchbricht. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus und stöhnte erleichtert, als das Gefühl bedrückender Enge allmählich nachließ.
Sie schlug die Augen auf und merkte, dass sie auf der Holztreppe im Globe Theatre saß. Edric kniete vor ihr.
»Was ist passiert?«, fragte Tania.
»Sag du’s mir«, erwiderte Edric, als er ihr aufhalf. »Ist jetzt alles wieder in Ordnung? Kannst du alleine stehen?«
»Ja, mir geht’s gut.«
»Bist du ohnmächtig geworden?«
Tania sah ihn an. »Nein, nicht ohnmächtig«, murmelte sie. »Lass uns nach draußen gehen.«
Tania und Edric saßen auf dem Vorplatz des Theaters. Tania hatte ihm gerade, so gut es ging, beschrieben, was ihr widerfahren war.
»Und?«, fragte sie. »Was sagst du dazu?«
»Ich glaube, das war eine Art Rückblende in eines deiner früheren Leben in der Welt der Sterblichen«, meinte Edric ruhig. »Du glaubst also, dass du in die elisabethanische Zeit zurückversetzt worden bist?«
Tania nickte. »Die Frau, die sich Bess nannte, hat Königin Elisabeth erwähnt«, meinte sie. »Aber ich habe mich so elend gefühlt, Edric. Und ich war so dünn. Bess sagte, dass ich drei Tage lang krank gewesen sei. Sie hatte mich nur aufstehen lassen, weil mein Vater wollte, dass ich ihn auf der Bühne sehe.« Sie griff nach Edrics Hand. »Ich habe so eine düstere Ahnung«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass dieses Mädchen gesund wurde. Ich fürchte, es ist schon als Kind gestorben, Edric. Ich meine, ich bin gestorben.«
Edric nahm ihre Hände in die seinen. »Du weißt doch, dass du in der Welt der Sterblichen schon mehrere Leben hattest«, meinte er beruhigend.
»Ja, das stimmt«, sagte Tania. »Aber es macht einen großen Unterschied, ob mir jemand etwas darüber erzählt oder ob ich mich plötzlich in einem meiner früheren Ichs wiederfinde.« Sie schauderte. »Wie viele Male habe ich Geburt und Tod erfahren, Edric? Wie viele Menschen bin ich schon gewesen?«
IX
» N ur düstern Frieden bringt uns dieser Morgen;
die Sonne scheint, verhüllt vor Weh, zu weilen.
Kommt, offenbart mir ferner, was verborgen:
Ich will dann strafen oder Gnad’ erteilen;
denn niemals gab es ein so herbes Los,
als Juliens und ihres Romeos.«
Tania lag mit geschlossenen Augen auf der Bühne, über Edrics
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