Die verlorene Koenigin
sich lautlos öffnete und schloss. Dann gaben die Beine unter ihr nach und sie musste sich auf die Treppe setzen. Die stickige Luft machte das Atmen schier unmöglich, in ihren Ohren rauschte es.
Sie schloss die Augen und rang nach Atem, aber ihre Kehle schnürte sich weiter zusammen, und die Luft schmerzte in ihren Lungen. Der Husten kam tief aus ihren Bronchien und tat in der Kehle weh. Ihr Schädel brummte.
»Mistress Ann! Mistress Ann! Wie ungezogen du bist, mein Kind!«
Das klang warm und freundlich. Es war die eindringliche, besorgte Stimme einer Frau. Jemand packte Tanias Handgelenk und zog sie auf die Füße.
Sie öffnete die Augen. Ihre Umgebung schien seltsam verwandelt. Das Holz des Treppenturms sah älter aus, und die Stufen schienen abgenutzter, als seien sie seit vielen Jahren in Gebrauch.
Eine untersetzte Frau, die sie noch nie im Leben gesehen hatte, stand auf den Stufen unter ih r … und dennoc h …
Die Frau trug ein bodenlanges rotes Kleid, ihr rundes Gesicht erinnerte an einen rotbäckigen Apfel, ihr Haar war von einer weißen Faltenhaube bedeckt.
Noch etwas schwindelig im Kopf, blickte Tania die seltsame Fremde an. Die Frau war hochgewachsen; obwohl sie weiter unten stand, war sie in aufrechter Haltung gleichauf mit Tania.
Tania blinzelte benommen und blickte sich um. Viele Menschen eilten die Treppe hinauf. Sie alle waren groß und trugen Kleidung, wie sie in der Renaissance unter Königin Elisabeth Mode gewesen war.
»Ein Sack Flöhe ist leichter zu hüten!« Ein dicker Finger wedelte vor Tanias Gesicht herum. »Nun komm schon! Dein Vater hat ausdrücklich verboten, dass du allein herumläufst. Sonst gehst du uns noch verloren.« Mit diesen Worten zog die Frau Tania hinter sich die Treppe hinunter.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich gar nicht mehr in ihrem eigenen Körper befand. Sie war zu einem zarten, zerbrechlichen Wesen geschrumpft, dessen magere Ärmchen und Beinchen aus einem Kinderkleid hervorragten.
Die Welt um sie herum war also nicht größer, sondern sie war kleiner geworden, und sie ahnte, dass sie auch wesentlich jünger geworden war. Aber wie viel jünger? Schwer zu sage n – vielleicht zehn Jahre alt?
Die Frau führte sie aus dem hektischen Menschenstrom heraus.
Wieder hustete Tania, wobei ihr die Brust eng wurde und schmerzte.
»Du lieber Gott, hör dir das an!«, sagte die Frau besorgt. »Das ist die Strafe dafür, dass du dich immerfort herumtreibst. Und das, wo du doch erst seit ein paar Stunden wieder auf den Beinen bist, nachdem du tagelang mit Fieber im Bett gelegen hast, Kind.« In ihrer Stimme lag zärtliche Besorgnis. »Ich habe deinem Vater gleich gesagt, dass es ein Fehler war, dich mitzunehmen, aber meine bescheidene Meinung zählt ja nicht, wenn der Herr sich etwas in den Kopf gesetzt hat.« Sie befühlte mit ihrer großen, warmen Hand Tanias Stirn. »Wahrhaftig, das Fieber tobt noch immer in dir, Mistress Ann. Wollen wir uns setzen und einen Moment verweilen?«
Tania starrte die Frau mit verschwommenem Blick und dröhnendem Schädel an. »Wer seid Ihr?«, murmelte sie.
»Du meine Güte, das Kind spricht im Wahn«, sagte die Frau. »Kennst du denn deine Bess nicht mehr, Kind? Deine Bess, die dich liebt und die alles für dich tut, seit deine Mutter dich meiner Obhut überließ, damit ich dich verwöhne und für dich sorge und dich in den wachen Stunden deines Lebens behüte?«
Tania lächelte. »Bess«, sagte sie leise, und der Name klang seltsam tröstlich, auch wenn sie nicht wusste, warum. »Bess.«
»Genau, mein Lämmchen«, sagte die Frau. »Hier ist deine Bess, und am liebsten würde sie dich sofort ins Bett stecken, aber der Herr besteht darauf, dass du ihn auf der Bühne sehen sollst. Und er würde es mir übel nehmen, wenn ich nicht gehorche.« Bess ging in die Hocke und legte die Hände schwer auf Tanias Schultern. »Ich bringe dich zur Seitenbühne«, sagte sie mit verschwörerischer Stimme. »Da kannst du deinem Vater eine Weile zusehen, aber dann bringe ich dich ins Bettchen zurück und rufe einen Arzt, der nach dir schaut. Möge der Himmel über mir einstürzen und meine Kühnheit strafen, aber wenn ich dir mit irgendetwas schaden würde, so könnte ich mir das nie verzeihen.«
Bess kam schwer atmend wieder auf die Beine. Tania nahm ihre Hand und spürte die tiefe Liebe der großen Frau, als sie zusammen den gewundenen Holzgang entlangliefen.
Sie fühlte sich wirklich schwach. Dass sie krank gewesen war, glaubte sie sofor t
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