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Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Morton
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Überredungskunst zum Trotz hatte man sich nicht dazu erweichen lassen, ihm einen Tisch zu geben. Anfangs war er enttäuscht gewesen, und alte Gefühle waren wieder hochgekommen, der Wunsch, etwas Besseres zu sein. Aber er hatte diese Gedanken abgeschüttelt und sich gesagt, dass es so in Ordnung war: All dieses vornehme Getue interessierte ihn sowieso nicht, und an einem so wichtigen Abend wollte er nicht das Gefühl haben, dass er etwas darzustellen versuchte, was er nicht war. Außerdem, wie sein Chef gern lästerte, musste man bei den Rationierungen ohnehin damit rechnen, dass man im Claridge’s die gleiche Pastete vorgesetzt bekam wie im Lyons Corner House, nur teurer.
    Jimmy schaute zur Küche hinüber, aber Dolly war nicht mehr da. Wahrscheinlich holte sie ihren Mantel oder zog ihren Lippenstift nach oder was auch immer die Frauen meinten tun zu müssen, damit sie schön waren. Er wünschte, sie würde es nicht tun; sie brauchte weder Schminke noch elegante Kleider. Das alles war nur Fassade, dachte Jimmy manchmal, die das eigentliche Wesen einer Frau übertünchte, nämlich das, was sie verletzlich und echt machte und sie in seinen Augen umso schöner wirken ließ. Dollys unterschiedliche Facetten und kleine Unvollkommenheiten waren genau das, was sie für ihn besonders liebenswert machte.
    Während er sich gedankenverloren den Arm kratzte, fragte er sich, was eben los gewesen war, warum sie sich so merkwürdig verhalten hatte, als sie ihn gesehen hatte. Sicher, er hatte sie überrascht, indem er so plötzlich am Tresen aufgekreuzt war und sie angesprochen hatte, als sie sich unbeobachtet wähnte und dort auf dem Boden gehockt und geraucht hatte, einen verträumten Ausdruck im Gesicht. Normalerweise liebte Dolly Überraschungen, und nichts konnte sie aus der Ruhe bringen – aber eben war sie eindeutig nervös geworden. Es war, als wäre sie nicht dieselbe gewesen, die mit ihm neulich nachts durch die Straßen von London getanzt war und ihn in ihr Zimmer mitgenommen hatte.
    Natürlich konnte es sein, dass sie hinter dem Tresen etwas versteckt hatte, was er nicht sehen sollte – Jimmy nahm seine Zigaretten aus der Tasche und steckte sich eine zwischen die Lippen. Vielleicht eine Überraschung für ihn, etwas, was sie ihm erst später im Restaurant zeigen wollte. Oder vielleicht hatte er sie dabei ertappt, wie sie von ihrer gemeinsam verbrachten Nacht geträumt hatte: Das könnte erklären, warum sie so erschrocken gewirkt hatte, beinahe verlegen, als sie aufgeblickt und ihn gesehen hatte. Jimmy riss ein Streichholz an und zog nachdenklich an seiner Zigarette. Es hatte keinen Zweck, sich das Hirn zu zermartern, und solange ihr merkwürdiges Verhalten keines ihrer üblichen Spielchen war (Gott, nicht heute Abend – heute Abend durfte er sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen), war es auch nicht wichtig.
    Er schob die Hand in seine Hosentasche und schüttelte den Kopf, denn natürlich war die Schachtel mit dem Ring noch da, wo sie vor zwei Minuten gewesen war. Jimmy kam sich lächerlich vor; er musste sich mit irgendetwas ablenken, bis er Dolly das verdammte Ding an den Finger stecken konnte. Da er kein Buch dabeihatte, nahm er sich die schwarze Mappe vor, die seine Fotos enthielt. Normalerweise nahm er sie nicht mit, wenn er für einen Auftrag unterwegs war, aber er war gerade von einer Besprechung mit seinem Redakteur gekommen und hatte keine Zeit gehabt, sie in seine Wohnung zu bringen.
    Er betrachtete sein letztes Foto, das er am Samstagabend in Cheapside aufgenommen hatte. Es zeigte ein kleines Mädchen, vielleicht vier, fünf Jahre alt, das vor der Küche eines Gemeindesaals stand. Ihre Kleider waren bei dem Bombenangriff, dem ihre Familie zum Opfer gefallen war, zerrissen, und die Heilsarmee hatte keine Kinderkleider mehr gehabt. Sie trug eine viel zu große Pumphose, die Strickjacke einer Erwachsenen und Stepptanzschuhe. Die Schuhe waren rot, und das kleine Mädchen war ganz stolz darauf. Im Hintergrund waren die Frauen vom Johanniter-Hilfsdienst damit beschäftigt, ein paar Plätzchen für die Kleine aufzutreiben, die, als Jimmy sie entdeckt hatte, mit einem Fuß irgendeinen Rhythmus klopfte wie Shirley Temple, während die Frau, die auf sie aufpasste, die Tür anstarrte, als hoffte sie inständig, Vater oder Mutter des Mädchens würden wie durch ein Wunder auftauchen und die Kleine mit nach Hause nehmen.
    Jimmy hatte so viele Kriegsfotos aufgenommen, seine Wände und seine Erinnerung waren

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