Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
vollgestopft mit lauter fremden Menschen, die angesichts von Zerstörung und Verlust tapfer weitermachten. Vergangene Woche war er in Bristol und Portsmouth und Gosport gewesen; aber dieses kleine Mädchen hatte etwas an sich – er kannte nicht einmal seinen Namen –, was Jimmy nicht vergessen konnte. Er wollte es nicht vergessen. Wie das kleine Gesicht strahlte, wie wenig es bedurft hatte, das Kind glücklich zu machen, und das nach dem schlimmsten Verlust, der einem Kind widerfahren konnte; ein Verlust, der sein ganzes Leben beeinflussen würde. Jimmy musste es wissen – er ertappte sich immer noch dabei, wie er die Gesichter von Bombenopfern betrachtete auf der Suche nach seiner Mutter.
Individuelle Tragödien wie die des kleinen Mädchens waren nichts im Vergleich zu den größeren Katastrophen des Kriegs; die Kleine und ihre Tanzschuhe ließen sich wie Staub unter den Teppich der Geschichte kehren. Aber das Foto war wirklich; in ihm war ein Moment der Wirklichkeit für alle Zeiten eingefangen wie das Insekt im Bernstein. Es erinnerte Jimmy daran, warum er diesen Beruf ausübte; die Wahrheit des Kriegs zu dokumentieren war wichtig. Manchmal, an Abenden wie diesem, wenn er sich im Raum umsah und sich dafür schämte, dass er keine Uniform trug, musste er sich selbst daran erinnern.
Jimmy drückte seine Zigarette in der leeren Suppentasse aus, die jemand zu dem Zweck auf den Tisch gestellt hatte. Er warf einen Blick auf seine Uhr – eine Viertelstunde saß er jetzt hier – und fragte sich, was Dolly so lange aufhielt. Als er gerade überlegte, ob er seine Sachen zusammenpacken und nach ihr suchen sollte, spürte er, dass jemand hinter ihm stand. Er drehte sich um in der Erwartung, Dolly zu sehen, aber es war jemand anders, jemand, den er noch nie gesehen hatte.
Endlich hatte Dolly es geschafft, sich Mrs. Waddingham zu entziehen. Auf dem Weg zurück in die Kantine fragte sie sich, wie es möglich war, dass so traumhaft schöne Schuhe so wehtun konnten. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Vivien war gekommen.
Sie stand an einem der langen Biertische.
Ins Gespräch vertieft.
Mit Jimmy.
Mit wild klopfendem Herzen versteckte Dolly sich hinter einer Säule in der Nähe der Küche, von wo aus sie alles genau beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Zu ihrem Entsetzen war die Situation noch schlimmer, als sie befürchtet hatte. Die beiden redeten nicht nur miteinander. Aus ihren Gesten und daraus, wie sie auf den Tisch schauten – Dolly konnte es nicht fassen –, auf Jimmys Mappe, die offen vor ihm lag, schloss sie, dass sie über seine Fotos sprachen.
Er hatte sie Dolly einmal gezeigt, und sie hatten ihr nicht gefallen. Sie waren abscheulich, ganz anders als die, die er frü her in Coventry gemacht hatte, wo er Sonnenuntergänge und Bäume und hübsche, von blühenden Wiesen umgebene Häuser fotografiert hatte; und sie ähnelten auch nicht im Entferntesten den Bildern der Wochenschauen, die sie mit Kitty zusammen im Kino gesehen hatte, in denen die lachenden Gesichter von Soldaten zu sehen waren, die erschöpft, aber siegreich heimkehrten, am Bahnhof begrüßt von jubelnden Kindern und tapferen Frauen, die ihnen Apfelsinen reichten. Jimmys Fotos zeigten verwundete Männer mit eingefallenen Wangen und Augen, die Dinge gesehen hatten, die niemand sehen dürfte. Dolly hatte nicht gewusst, was sie sagen sollte; sie hatte nur gewünscht, er hätte ihr die Fotos nie gezeigt.
Was dachte er sich bloß dabei, sie jetzt Vivien zu zeigen? Vivien war ein in jeder Hinsicht vollkommenes Geschöpf, und derart abstoßende Bilder hatten keinen Platz in ihrer Welt, noch viel weniger als in Dollys. Dolly hatte das Gefühl, ihre Freundin beschützen zu müssen; am liebsten wäre sie zu dem Tisch gegangen, hätte die Mappe zugeklappt und dem Gespräch ein Ende bereitet. Aber sie konnte nicht. Am Ende würde Jimmy sie womöglich küssen, oder, schlimmer noch, sie als seine Verlobte bezeichnen. Dabei waren sie überhaupt nicht verlobt, jedenfalls nicht offiziell. Sie hatten zu Anfang ihrer Beziehung darüber geredet, aber das war ewig her. Sie waren inzwischen älter geworden, und der Krieg änderte die Menschen, der Krieg änderte alles. Dolly schluckte; vor diesem Moment hatte sie sich am allermeisten gefürchtet, und jetzt wo er gekommen war, blieb ihr nichts anderes übrig, als zähneknirschend zu warten, bis er vorbei war.
Sie hatte das Gefühl, als wären Stunden vergangen, als Jimmy endlich seine Mappe
Weitere Kostenlose Bücher