Die Verlorenen von New York
aber im Moment weiß keiner, wie’s weitergehen wird, was mit den Lebensmitteln ist und so. Und Lorraine ist wieder schwanger.«
»Das wusste ich noch gar nicht«, sagte Alex. »Gratuliere.«
Jimmy verzog das Gesicht. »Das Timing könnte besser sein«, sagte er. »Vier kleine Kinder, und das in dieser Situation. Aber Bri wäre uns eine große Hilfe, und wenn in Tulsa alles klappt, könnten wir ihr ein richtiges Zuhause bieten. Einverstanden?«
»Nein«, sagte Alex. »Ich meine, dein Angebot ist natürlich sehr großzügig, Onkel Jimmy, aber Bri ist gar nicht mehr hier.«
»Nein?«, fragte Jimmy. »Wo ist sie denn?«
»Ich hab vergessen, euch davon zu erzählen«, sagte Alex. »Unser Priester hat gehört, dass ein Kloster nördlich von New York junge Mädchen aufnimmt. Bri ist am Donnerstag abgereist.«
Onkel Jimmy nickte nachdenklich. »Isabella wäre sicher sehr froh darüber«, sagte er. »Tja, dann müssen wir stattdessen eben Julie mitnehmen, auch wenn Lorraine nicht gerade begeistert sein wird. Immer noch besser als niemand. Und den einen Morgen in der Bodega hat sie ja ordentlich geschuftet, das hat mir gefallen. Ja, ich denke schon, dass ich Lorraine dazu überreden könnte, stattdessen Julie mitzunehmen. Was hältst du davon?«
»Muss ich das sofort beantworten?«, fragte Alex, der das dringende Bedürfnis empfand, erst einmal eine Pro-und-Kontra-Liste zu erstellen.
»Besser wär’s«, antwortete Jimmy. »Es wird ohnehin nicht leicht werden, Lorraine davon zu überzeugen, dass Julie genauso hart arbeiten kann wie Bri, ohne dass ich jetzt auch noch sage ›Alex überlegt noch‹. Außerdem wollten wir gleich morgen früh aufbrechen. Wo steckt Julie eigentlich?«
»Bei einer Freundin«, sagte Alex. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, ohne Julie hier zu wohnen, ohne die ständigen Spannungen zwischen ihnen.
Aber dann überlegte er auch, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er niemanden mehr hätte, wenn keiner von der Familie mehr übrig war. Vielleicht würde Jimmy bis nach Tulsa kommen, vielleicht aber auch nicht. Manchmal funktionierte das Telefon, manchmal auch nicht. Und auf die Post war genauso wenig Verlass. Am Ende würde Julie vielleicht einfach spurlos verschwinden, genau wie Carlos, genau wie Mamá und Papá.
Außerdem hatte er Bri versprochen, mit Julie zusammen in der Wohnung zu bleiben. Was war das für ein Versprechen, wenn er es schon nach vier Tagen brach?
»Lieber nicht«, sagte Alex. »Tut mir leid, Onkel Jimmy, aber ich glaube, es ist besser für Julie, wenn sie bei mir bleibt.«
»Ich weiß, dass Julie und Lorraine nicht besonders gut miteinander auskommen, aber das könnte sich ja ändern«, sagte Onkel Jimmy. »Du kannst doch auch nicht mehr ewig hierbleiben. Und wenn du irgendwann gehen musst, hast du allein viel bessere Chancen. Bri wegzuschicken war die einzig richtige Entscheidung, Alex. Jetzt kannst du für Julie das Gleiche tun.«
Alex war klar, dass Onkel Jimmy Recht hatte. Julie würde bei den beiden sicher ordentlich mit anpacken müssen, aber solange sie selbst etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf hatten, hätte Julie das auch. Und vielleicht war in Tulsa ja wirklich alles besser. Hier in New York konnte man nicht einmal sicher sein, ob die Schulen im Herbst wieder aufmachen würden – falls Julie und er überhaupt so lange leben würden.
Aber Julie wäre garantiert unglücklich, und das konnte Alex ihr nicht antun. Ihr nicht, Bri nicht und auch sich selbst nicht. Und was, wenn seine Eltern doch irgendwann zurückkamen und er Julie dann nicht ausfindig machen könnte?
»Danke«, sagte er. »Aber wir kommen schon zurecht. Wenn’s hart auf hart kommt, wird uns schon eine Lösung einfallen.«
Onkel Jimmy stand auf und umarmte Alex. »Du bist ein guter Junge«, sagte er. »Isabella war immer so stolz auf dich und auf deine guten Noten. Auch wenn du kein harter Kerl bist, bist du trotzdem stark. Unsere Adresse in Tulsa ist: Miguel Flores, East 88 th Street. Vielleicht kommt ihr uns ja eines Tages dort besuchen, ihr alle zusammen.«
»Ich werde für euch beten«, sagte Alex und brachte seinen Onkel zur Tür. Was mache ich hier eigentlich?, fragte er sich. Erst schicke ich Bri zu irgendwelchen fremden Leuten und dann lasse ich nicht zu, dass Julie mit meiner eigenen Familie fortgehen kann.
Ach Mamá, flehte er stumm. Papá. Kommt zurück. Ohne euch bin ich verloren.
Dienstag, 14 . Juni
»Bevor wir mit der Messe beginnen, möchte ich im
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