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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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Auftrag der Erzdiözese eine kurze Befragung durchführen«, rief Pater Mulrooney mit Donnerstimme. Alex war immer wieder beeindruckt, welche Lautstärke dieser hagere Körper hervorbringen konnte. »Ich bitte also um Handzeichen. Wie viele von Ihnen haben bereits von ihren Eltern gehört, dass sie New York am Ende des Schuljahres verlassen werden?«
    Etwa ein Drittel der Schüler hob die Hand.
    »Aha«, sagte Pater Mulrooney. »Und wie viele wissen bereits, dass sie New York noch vor Ende der Sommerferien verlassen werden?«
    Ungefähr ein weiteres Drittel hob die Hand.
    »Dann jetzt noch einmal zur Kontrolle«, sagte Pater Mulrooney. »Wer von Ihnen schon weiß, dass er im kommenden Schuljahr nicht mehr an die St. Vincent de Paul Academy zurückkehren wird, hebe bitte die Hand. Das gilt auch für den Abschlussjahrgang.«
    Jetzt gingen so viele Hände gleichzeitig nach oben, dass Alex fast schon fürchtete, als einziger Schüler an der Schule übrig zu bleiben.
    »Zur Gegenprobe bitte ein Handzeichen von denen, deren Eltern bisher noch keine festen Pläne haben, aus New York wegzugehen«, rief Pater Mulrooney.
    Widerstrebend hob Alex die Hand und sah mit Erleichterung, dass auch noch andere Hände nach oben gingen. Von denen würden sicher auch noch einige verschwinden, sie wussten es nur noch nicht. Und für die Schulabgänger würde ja eine neue siebte Klasse nachrücken. Die Zahlen waren also nicht allzu aussagekräftig.
    Ob wenigstens ein paar seiner Freunde mit ihm in der Stadt bleiben würden? Doch bevor er sich umschauen konnte, waren die Hände schon wieder unten. Davon abgesehen – hatte er überhaupt richtige Freunde? Oder waren sie alle wie Danny O’Brien, nach außen freundlich, aber eiskalt, wenn’s drauf ankam?
    Bei Chris wusste man wenigstens, woran man war, dachte Alex.
    Nach der Messe kam Kevin Daley zu ihm herübergeschlendert. »Hi, Morales«, sagte er. »Wie ich sehe, hast du vorerst keine anderen Pläne?«
    »Vorerst nicht«, sagte Alex, als hätte er überhaupt irgendwelche Pläne.
    »Ich bleib auch hier«, sagte Kevin.
    »Fein«, sagte Alex. Dann war jetzt wohl wenigstens dieses zynische kleine Wiesel sein Freund.
    Mittwoch, 15 . Juni
    Vier Wochen war es nun her, seit der Asteroid den Mond ein kleines Stückchen näher an die Erde herangeschoben hatte – vier Wochen voller Tod und Zerstörung. Vier Wochen, seit Alex von seinen Eltern gehört hatte, und einen Tag weniger als vier Wochen, seit er zuletzt mit seinem Bruder gesprochen hatte.
    An diesem Abend ging er mit Julie zu St. Margaret’s für die Totenmesse. Zwei Messen an einem Tag, dachte Alex. Mamá würde glauben, ich fühlte mich zum Priester berufen.
    Die Kirche war zum Bersten voll, aber es war schwer zu sagen, ob der Gottesdienst den Leuten Trost spenden konnte. Julie jedenfalls wirkte eher gelangweilt, und er selbst empfand überhaupt nichts. So war es leichter.
    Samstag, 18 . Juni
    »Ich hab bei Onkel Jimmy angerufen«, erzählte Julie Alex, als sie bei dem zusammensaßen, was dieser Tage Mittagessen hieß: einer Dose rote Bohnen. »Ich wollte fragen, ob er noch Konserven für uns hat. Aber es ist keiner drangegangen.«
    »Er ist weg«, erklärte Alex. »Mit der ganzen Familie. Sie wollen versuchen, sich bis nach Tulsa durchzuschlagen. Vor ein paar Tagen sind sie losgefahren.«
    »Oh«, sagte Julie.
    »Wir kommen schon zurecht«, sagte Alex, aber sein schlechtes Gewissen versetzte ihm einen Stich. Zu welchem Leben hatte er Julie verdammt?
    Julie schob ihren Teller weg, obwohl noch ein paar Bissen übrig waren. »Von mir verabschiedet sich nie jemand«, sagte sie. »Bri hat mit Papá gesprochen und du mit Carlos und mit Bri und mit Onkel Jimmy, nur ich hab mit keinem gesprochen.«
    »Bist du mir deshalb immer noch böse?«, fragte Alex. »Weil ich dich nicht geweckt habe, als Carlos am Telefon war?« Am liebsten hätte er Julies restliche Bohnen aufgegessen – das geschähe ihr recht.
    »In der Schule haben sie gefragt, wer von uns nach den Ferien noch da ist«, sagte Julie stattdessen. »Die meisten gehen weg.«
    »An meiner Schule auch«, sagte Alex. »Aber wir bleiben hier. Du und ich, wir gehen nirgendwohin. Und jetzt iss deinen Teller leer.«
    »Diesen Fraß«, murrte Julie, aber sie tat es.
    Und wenn wir sterben?, fragte sich Alex. Was, wenn wir verhungern, und dann passiert irgendwas, so dass Papá und Mamá und Carlos und Bri alle zurückkommen, nur um dann hier unsere Leichen zu entdecken? Vielleicht war es die

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