Die Vermessung der Frau
Präriewühlmäusen ist es das Nestbauerhormon schlechthin. Deshalb soll es nun auch Männer und Frauen monogamer machen. Erst in jüngster Zeit wird Oxytocin auch mit steigender Aggressivität gegen Außengruppen – sprich Rassismus – in Verbindung gebracht. In den USA gibt es schon Oxytocin-Nasensprays im Handel. Da der genetische Determinismus mittlerweile umstritten ist, greifen viele Wissenschaftler nun auf die Hormone. Hormone sollen alles erklären, vor allem aber die bestehenden Strukturen nicht ändern. Lieber verändern die Wissenschaftler den Körper des Menschen als politische Systeme, welche die Menschen stärker knechten als jede biologische Gegebenheit. Oder im Fall der Liebesbeziehungen:
Nicht die Kommunikation zwischen den Paaren soll künftig über die Bindungsfähigkeit entscheiden, sondern die hormonelle Kompatibilität.
5) »Nancy Etcoff, Susan Pinker, Steve Pinker«: Erstaunlich, dass noch niemand die persönlichen engen Verflechtungen der evolutionären Bestsellerautoren kommentiert hat. Nancy Etcoff ist die Ex-Frau von Steven Pinker, Susan Pinker seine Schwester. Das gegenseitige Zitierkartell ist medial äußerst wirksam. Die Gemeinde der Evolutionsbiologen ähnelt in den Beziehungsmustern mehr und mehr einer Sekte, doch dies nur so nebenbei. Etcoff hat mit »Survival of the Prettiest« eines der Standardwerke für die bescheuerte Attraktivitätsforschung geliefert, die auch in der Politikwissenschaft Einzug hält. So verstieg sich ein Schweizer Politologe 2007 zur Behauptung, Schöne würden besser gewählt. Ein Blick in die realexistierenden Abgeordnetenkammern genügt, um diesen Befund zu widerlegen, siehe Stämpfli, Politik. Susan Pinker behauptet, dass der Mensch vor allem durch seine Geschlechtszugehörigkeit determiniert ist. Steven Pinker rekonstruiert Geschichte aufgrund statistischer, mathematischer, formalistischer Methoden. Dies mag Frauen schmeicheln, hält aber der historischen Wirklichkeit nicht stand. Der Hirnforscher Gerhard Roth spricht allen Menschen den freien Willen ab. Der Mensch sei nichts anderes als eine neurobiologische Verbindung. Roths »Beweise« sind Abbildungen. Die den Bildern zugrundeliegenden Messverfahren werden dabei nicht reflektiert. Roth schließt von Korrelationen auf Kausalitäten – ein klassischer Anfängerfehler unter Naturwissenschaftlern.
6) »Kussstudie«: Die Süddeutsche berichtet am 17.5.2010 über »chemische Botenstoffe«, die für die Partnerwahl entscheidend sind und infolgedessen zum Küssen animieren.
7) »Menschliches Verhalten in Häufigkeiten fassen«: Früher war der Begriff »Algorithmus« oder »Logarithmus« ein harmloses Wort. Heutzutage stecken hinter Algorithmen ganze Glaubens- und Herrschaftssysteme. Die Wissenschaft redet mehr und mehr in dieser mathematischen Symbolsprache, ohne auf die Zusammensetzung hinter dem Algorithmus einzugehen. Die Wissenschaftler leben in einer sprachlosen Welt, weil sie ihre mathematischen Annahmen nicht mehr auf die Sprache zurückführen können. Deshalb verschwindet politische Urteilskraft hinter einer mehrheitsfähigen Umfragehysterie. Menschliche Kommunikation zieht ihre Kraft aus der Umwandlung von Deutungen in Zahlen, Logik, festlegbare Abläufe. Sie hat enormes Potenzial, sie leidet aber unter einem Grundwiderspruch: Logarithmen eigenen sich rein von ihrer Beschaffenheit nicht für politische Debatten, welche ihrerseits aber für die Menschen konstitutiv sind. Menschen brauchen Spiel- und Deutungsräume, Zwischenräume und Möglichkeiten.
Sie brauchen die umschleichende Zärtlichkeit der Hermeneutik gegenüber der Mathematik. Die Zeichen der Mathematik reduzieren die Welt auf ein Zahlenverhältnis, das schließlich zum Tastenverhältnis mutiert und dem Menschen keinen Namen, sondern nur noch eine Zahl zuteilt.
8) »Wie lange ist es her, dass Sie Menschen gesehen haben, die sich in aller Öffentlichkeit küssen«: Das Verschwinden öffentlicher Plätze forciert die Vereinsamung und Individualisierung von Menschen. Was theoretisch längst bekannt ist, lässt sich praktisch an den real existierenden Bahnhöfen Deutschlands erleben. Es gibt kaum mehr Plätze, an welchen sich Menschen versammeln, auf Bänken sitzen und einen Schwatz halten können. Die Bahnhöfe sind zu sterilisierten Umschlagplätzen mutiert, deren Untergeschosse allesamt zur Shoppingmeile umfunktioniert werden. In den USA gibt es – außer in den großen Städten – keine Plätze, Märkte, öffentliche Orte mehr.
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