Die Vermessung der Lust (German Edition)
Kleingeld griffbereit? Die nehmen dort keine Fünfhunderteuro-Scheine.« Sie nickte und setzte den Blinker.
*
An diesem Abend putzte Simone die Büroräume der Firma Wollgast und Söhne, Immobilien in Nah und Fern. Sie war allein, ein angenehmer Job. Dennoch wirkte sie fahrig, arbeitete unkonzentriert. SIE, immer SIE. Dora. Gab es also wirklich diese Liebe auf den ersten Blick? Du gehst durchs Leben, es gibt sieben Milliarden Menschen (oder acht oder neun?), du machst dir keine Illusionen, genau dem Menschen zu begegnen, der DEIN MENSCH werden soll, und dann steht er dir gegenüber. Und haucht dich an. Knoblauch. Sie selbst roch wahrscheinlich wieder nach Tomatensuppe, das behauptete jedenfalls Franzi, die penetrant nach Fisherman's Friend roch. Dabei hatte sie zuletzt voriges Jahr Tomatensuppe gegessen, Weihnachten bei Mama.
Das Kreuz tat ihr weh. Sie schaltete das Handy aus, Dora sollte nicht anrufen, um das Treffen morgen abzusagen. Sie würde sich sonst aus dem Fenster stürzen oder im Putzeimer ertränken. Sie schaltete das Handy wieder an. Dora sollte anrufen, um zu sagen, wie sehr sie sich auf das Treffen freue. Wenn sie das täte, brauchte sie kein Wasser, um den Boden im Büro des Chefs feucht aufzuwischen. Sie schaltete das Handy wieder aus.
Tat man das, wenn man verliebt war? Das Handy ein- und ausschalten? Sah so aus. Was haben die Menschen eigentlich früher getan, als es noch keine Handys gab? Den Stecker gezogen? Und vorher?
Pause. Simone nahm ihr Käsebrot aus der Tasche, setzte sich in den Chefsessel, schaute hinaus in die Nacht, auf das schreckliche Hochhaus gegenüber, in dem die Menschen wie in Kaninchenställen wohnten. Sie wohnte selbst in einem, aber sie würde einmal in einem Haus inmitten eines großen verwilderten Gartens leben, nein , sie würde Rosen und Kräuter züchten und einen Teich mit Kois anlegen, eine Bank daneben, auf der sie mit Dora sitzen und träumen würde. Das war eine wunderbare Vorstellung. Einfach dasitzen und träumen, bis es zu kalt draußen wurde, dann ging man Arm in Arm zurück ins Haus, gemeinsam unter die Dusche und dann ins Bett, um die Momente der Wollust zu einem ekstatischen Ende zu bringen. Sie biss herzhaft in ihr Brot. Morgen würde sie nach Käse riechen, nicht nach Tomatensuppe.
*
Was wollte der in der Tankstelle? Lars parkte seinen Wagen in einem Sicherheitsabstand von zwanzig Metern, schaltete den Motor ab, ganz so wie in den Detektivfilmen im Fernsehen. Aber das hier war kein Krimi. Oder doch? Dass hier etwas nicht stimmte, war Lars schon klar gewesen, als sich Madeleine Vulpius und Herr Bergengruen auf dem Parkplatz getroffen hatten – sicher nicht zufällig. Das heißt: vielleicht doch zufällig. Bergengruen war ein penetranter Typ, er könnte die Professorin überredet haben, ihn nach Hause zu fahren. Tatsächlich war dies der richtige Weg, wenn auch über Umwege. Aber der Halt an der Würstchenbude? Hallo? Madeleine Vulpius aß Fritten mit Schranke? Nein, da stimmte etwas nicht.
Sie fuhren weiter. Lars ließ einen Wagen zwischen den der Professorin und seinen, auch das taten sie in Krimis immer, sehr professionell. Er schwitzte. Als sie in die Kantstraße einbogen, gab es keinen Zweifel mehr: Madeleine Vulpius fuhr Herrn Bergengruen nach Hause, so einfach war das. Er würde aussteigen, die Professorin würde zurückfahren, ein paar schlechte Gedanken an ihren Doktoranden verschwendend, der ihr diese Plage auf den Hals gehetzt hatte. Nun, damit konnte Lars gut leben.
Sie waren am Ziel. Das Haus, in dem Lars und Herr Bergengruen, nur wenige Meter in der Vertikalen voneinander getrennt wohnten, ein Kasten Marke Hasenstall in einem ansonsten von kleinen Firmen besetzten Industriegebiet. Sie hielten an. Die Lichter am Wagen der Professorin erloschen. Aha? Warum das? Gleich würde die Beifahrertür aufgehen und Bergengruen aussteigen, einen Diener machen und etwas wie »Dankeschön« murmeln.
Tatsächlich, die Beifahrertür öffnete sich und Bergengruen stieg wie erwartet aus. Völlig unerwartet öffnete sich jedoch auch die Fahrertür und Madeleine Vulpius stieg aus. Sie gingen zur Haustür, Bergengruen sperrte auf, beide verschwanden im Inneren. Lars öffnete den Mund und bekam ihn nicht mehr zu.
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Simone öffnete den Mund und bekam ihn nicht mehr zu. Das war jetzt aber nicht Wirklichkeit, oder? Sie hatte ihr Käsebrot zu Ende gekaut, dabei aus dem Fenster geschaut und den Wagen der Vulpius sofort erkannt. Dann stiegen sie aus.
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