Die Vermessung der Lust (German Edition)
Beide. Gingen ins Haus. Eine Minute später ging im zweiten Stock das Licht an, das Fenster hatte keine Gardinen, man sah diesen Bergengruen, diesen absolut widerlichen Kerl, wie er gestikulierend zur Couch ging, der man die Abgenutztheit auch aus der Entfernung ansah.
Simone sprang aus dem Chefsessel, sprintete zum Lichtschalter und sorgte für Dunkelheit, sprintete zurück, stellte sich ans Fenster und drückte die Nase gegen die Scheibe. Nicht zu heftig atmen, damit das Glas nicht beschlug.
Sie hatte sich erst einmal zuvor als Spannerin betätigt, das war, als ihr Bruder Georg diese verdammt scharfe Schnecke bis in sein Zimmer und aufs Bett gequatscht hatte, aber Gott sei Dank nicht ins Bett. Entsprechende Geräusche jedenfalls waren damals keine zu hören gewesen, nur ein »Lass deine Pfoten aus meiner Jeans«, das Simone, gerade vierzehn, noch an das Gute im Menschen, jedenfalls dem weiblichen Geschlechts hatte glauben lassen.
Jetzt also drang sie zum zweiten Male in die Privatsphäre von Leuten ein, dazu solchen, die sie kaum kannte. Mein Gott, dieser Typ! Sie hatte ihn kaum angesehen, auch als Adonis hätte er nicht mehr als eine Zehntelsekunde ihrer kostbaren Zeit bekommen. Und die Professorin! Das war alles weit schlimmer als Georgs Versuch, die Schnecke zur Nacktschnecke zu machen – und Simones Spannerei nicht minder.
Noch immer standen die Vulpius und dieser Typ im Wohnzimmer. Letzterer setzte sich auf die Couch und schlug mit einer flachen Hand auf den Platz neben sich. Frau Professorin Vulpius sagte etwas, wies nach links, wo sich, so vermutete Simone wenigstens, das Schlafzimmer des Wohnungsbesitzers befinden dürfte. Der aber schüttelte nur den Kopf und schlug noch einmal auf die Sitzfläche der Couch. Madeleine Vulpius zögerte. Sah aus dem Fenster. Wieder sagte der Typ etwas, vielleicht, dass niemand sie beobachten konnte, nur Büros da drüben, um diese Zeit arbeitet dort niemand mehr, du siehst ja, alles dunkel. Ob er sie tatsächlich duzte? Es sah fast danach aus.
Madeleine Vulpius setzte sich in Bewegung, Simone hielt den Atem an, fingerte nach einem Papiertaschentuch in ihrer Hose, wischte das schon leicht beschlagene Stück Scheibe wieder klar. Madeleine Vulpius blieb stehen.
Etwas irritierte Simone. Eine Bewegung in ihrem rechten Augenwinkel, da unten an der Haustür. Jemand stand dort und sah noch oben. Schwer zu erkennen, ob Mann oder Frau... doch, ein Mann. Jetzt trat er vor und geriet in das Licht der Leuchte über der Tür. Das war doch... dieser Doktorand, Lars. Er sperrte jetzt die Tür auf und verschwand im Inneren des Hauses. Licht im Flur. Wohnte der etwa auch hier? Keine Zeit für Mutmaßungen, denn tatsächlich saß Madeleine Vulpius in ihrem herrlichen himmelblauen Kostüm nun neben dem Typen auf dieser schäbigen, versifften Couch. Sie schaute geradeaus, direkt in Simones Augen, zumindest theoretisch. Das war der Beobachterin ein wenig unangenehm.
Der Typ legte eine Hand auf das Knie der Professorin. Die schaute noch immer geradeaus, bewegte sich nicht. Die Hand wanderte unter den Rock, immer höher, der Rock rutschte nach oben. Mein Gott, dachte Simone, jetzt geht schon ins Schlafzimmer. Erspart mir diesen Anblick! Ich bin eine Lesbe, verdammt noch mal!
Jetzt beugte sich der Typ, die Hand an Madeleines Oberschenkel hin und her bewegend, zum Kopf der Frau und küsste ihn am Kinn. Madeleine Vulpius lehnte sich zurück, öffnete die Beine ganz leicht. Der Mann sagte etwas und die Professorin stand auf. Mit einem Handgriff entledigte sie sich des Rocks und dann ging alles sehr schnell. Jacke, Bluse, BH. Der Typ war noch schneller und der Anblick, den sein nackter Körper bot, ließ Simone ein Dankgebet zu jener gnädigen Göttin sprechen, die ihr die Liebe zu Männern versagt hatte. Was für ein Anblick!
Die Vulpius hingegen... Sie trug nur ein malvenfarbenes Höschen, das sich über ihre sehr schönen Pobacken spannte. Wieder sagte der Mann etwas. Er stand jetzt vor der Vulpius, breitbeinig, er wies auf das recht beachtliche Teil, das ihn als Mann auswies. Madeleine Vulpius sank vor ihm auf die Knie...
Genug! Simone rannte aus dem Büro, direkt auf die Toilette, verspürte den Drang, sich zu übergeben, unterdrückte ihn aber und lehnte sich gegen ein Waschbecken. Hatte sie das nur geträumt? Wurde sie verrückt? Sie sehnte sich nach einer Zigarette, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Fünf Minuten später schaute sie in den Spiegel. Ihr Gesicht gefiel ihr nicht, es saß
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