Die Vermessung der Lust (German Edition)
sich im Laufe seiner aktiven sexuellen Existenz ein Sortiment erotisch-handwerklicher Bausteine erarbeitet, mit denen er ein Vorspiel individuell auf seine jeweilige Partnerin zuschneiden konnte. Das war der Vorteil, wenn man sich mit Psychologie auskannte. Man schätzte den Charakter der Frau in Sekundenschnelle ein, achtete auf Gesten und Reaktionen, Körperhaltung und Sprache, Äußerlichkeiten eben. Sie lenkten Schifflers Vorgehensweise wie ein unfehlbares Radar durch die Magazine seiner amourösen Kniffe, um ein optimales, ein maßgeschneidertes amouröses Menü zusammenstellen zu können.
Ihm war zum Beispiel aufgefallen, dass Frauen, sich nervös die Lippen leckten, damit nicht unbedingt ihre Bereitschaft zum Blowjob signalisierten, vielmehr steckte darin eine Aufforderung zum Cunnilingus. Rothaarige Frauen wollten intensiv gestreichelt werden (Bauch, Brüste, Schenkel, eventuell Rücken), blonde hingegen fanden dies eher nervig, waren aber verrückt nach nassen Küssen in den Nacken.
Unter hellbraunen Frauen war die Neigung zum milden Fußfetischismus ausgeprägter als unter schwarzhaarigen, während Frauen mit überproportional langen Beinen, zumal wenn sie diese im Gespräch übereinanderschlugen, einem beherzten Griff in die Pobacken eine Menge abgewinnen konnten. Und so weiter.
All das hatte Schiffler gespeichert und konnte es bei Bedarf abrufen. Jetzt nicht. Diese Simone war eine harte Nuss, weder der Cunnilingustyp noch wirklich scharf auf zärtliche kleine Bisse in die Nippel, wie sie sonst von Frauen ihrer Statur (zierlich, kleine Brüste, die Beine kurz, aber formschön) durchaus begrüßt wurden. Eine milde Form von Masochismus war solch scheuen Rehen wie Simone von Natur eigen, doch sie weigerte sich. Sie war verklemmt. Ja, genau das: verklemmt, von irgendwelchen unsachgemäß operierenden Liebhabern verpfuscht, ein Fall für den Reparaturdienst. Doch dazu hatte Schiffler im Moment weder Zeit noch Nerven noch Lust.
Er schaute aus seinem Bürofenster auf den großen Parkplatz für die Studierenden, suchte sich ein paar hübsche Mädchen, folgte ihnen, schätzte sie aus der Entfernung ab. Er seufzte. So viele potentielle Geliebte liefen da unten herum, viel zu viel für ein Menschenleben.
Am Rande des Parkplatzes ging ein älterer Mann nervös auf und ab. Selbst von weitem konnte Schiffler seine abgrundtiefe Hässlichkeit erkennen. Mein Gott, wie gut, dass er selbst von der Natur wohlwollend geformt worden war! Gegen das kleine, bedrohlich wachsende Bäuchlein ging er zweimal die Woche in einem Fitnessstudio vor. Seine Haare, nun ja, es hätten mehr sein können, aber die kahle Stelle am Hinterkopf machte ihn doch noch interessanter, oder?
Oh, wer kam da zögernd über den Parkplatz gelaufen? Sie. Madeleine Vulpius, elegant wie immer, in ihrer Rechten nervös mit dem Autoschlüssel spielend. Auch der hässliche wartende Mann schien sie gesehen zu haben, denn er hielt in seiner trippelnden Nervosität inne und ging dann auf sie zu. Madeleine Vulpius blieb stehen. Der Mann trat an sie heran, sie unterhielten sich. Wer war das? Ein neuer Kollege? Psychologen waren zumeist hässliche Missgeburten, er selbst, Schiffler, eben die Ausnahme von der Regel. Wer sonst als vom Leben Benachteiligte konnten auf die abstruse Idee verfallen, sich mit dem verkorksten Innenleben anderer zu beschäftigen?
Gut, auch Madeleine Vulpius war eine Ausnahme. Warum also redete sie mit diesem Gesichtsmonster? Und ging jetzt gar mit ihm zu ihrem Wagen? Schiffler pfiff leise durch die Zähne, als die beiden einstiegen. Langsam bewegte sich das Auto vom Parkplatz, blinkte und bog auf die Straße Richtung Innenstadt ein. Ein Wagen direkt hinter ihnen folgte ihnen. Bestimmt ein Zufall, dachte Schiffler. Aber interessant. Er würde sich bemühen, mehr darüber zu erfahren.
*
Lars saß in seinem Wagen, die Hände um das Lenkrad, die Gedanken ein paar Stunden zurückschweifend, als er Dora auf dem Schreibtisch genommen hatte. Er wollte ihr nur eine Gefälligkeit erweisen, nichts weiter, der Orgasmus war ihm beinahe peinlich gewesen. Sie waren ohne ein Wort, ohne eine Geste auseinandergegangen, hatten sich angezogen, die Tür aufgeschlossen, zurück an ihre Arbeit. Das Präservativ befand sich, eingewickelt in ein Papiertaschentuch, noch immer in Lars' Hemdtasche, er nahm es mit spitzen Fingern heraus und entsorgte es in einem Abfallbehälter, bevor er sich in seinen Wagen setzte.
Dort saß er immer noch. Er fühlte sich
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