Die Vermessung der Lust (German Edition)
inzwischen fünf Nachrichten eingegangen, von Caro, Evi, Minou, Kerstin und Patti, Mädchen, die sie nicht kannte, wohl Freundinnen von Ariane, die sich als Probandinnen für die neue Versuchsreihe bewerben wollten. Schön. Die Sache kam ins Rollen.
»Hat Schiffler wieder gegen die Chefin gestänkert?«, fragte Dora nach einer Viertelstunde, weil ihr die Stille unangenehm geworden war. Lars schreckte hoch wie aus einem Albtraum.
»Was? Wie? Wer? Schiffler?« Sie sah ihm an, dass er mit dem Gedanken spielte, sie anzulügen? Schiffler? Wieso? Hab ihn nicht getroffen heute. Aber er war klug genug, es nicht zu tun. Lieber schüttelte er den Kopf und antwortete: Nein, nur der übliche nichtssagende Smalltalk, ja, zufällig getroffen.
Sie glaubte ihm nicht. Lars war blass geworden, mehr noch, weiß wie Schichtkäse.
*
Mein Gott, ich bin ein schlechter Lügner, dachte Lars. Dora hat uns gesehen, sie wird denken, dass... ach, ist jetzt auch egal. Ich werde meinen Job hier aufgeben, in eine andere Stadt, an eine andere Uni gehen, ein anderes Thema für meine Dissertation suchen, etwas, das nichts mit Sex zu tun hat. Ich hasse Sex.
Warum kann man sich in der Pubertät nicht entscheiden, ob man sein restliches Leben mit oder ohne Sex verbringen möchte? Und entscheidet man sich dagegen, wird der Sexualtrieb einfach per Klick deaktiviert, die Hormone werden abgeschaltet. Man hätte endlich mehr Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens, für Freundschaften mit Jungs, die auch gerne Briefmarken sammeln, für die komplexen Geheimnisse der Integralrechnung, für Robert Musils voluminösen Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, den man in aller Ruhe viermal hintereinander lesen könnte. Okay, dreimal. Man würde nicht einmal mehr onanieren müssen. Frauen wären ganz normale Menschen, nur eben anatomisch anders. Man könnte fünf Minuten lang ganz zwanglos mit ihnen plaudern, ohne gleich einen Ständer zu kriegen, vielleicht sogar über Integralrechnung.
Und das mit der Fortpflanzung konnte man bestimmt auch anders regeln. Das Abzapfen des Samens im Schlaf, man würde es kaum merken und den Orgasmus für einen schönen Traum halten. Aber nein, alles war nur ein Traum, man konnte Sex nicht ausknipsen wie eine Energiesparlampe. Er war allgegenwärtig, er lauerte überall, selbst in so harmlosen Gegenständen wie Gurken oder Bananen, in einem putzigen Tier wie dem Mops auch. Er war ein Bestandteil der Luft, er strömte durch sie wie Grippeviren. Keine Chance.
Liebe machte dumm. Sie machte einen saublöd und verleitete zu Handlungen, an die man mit normalem Verstand nicht einmal gedacht hätte. Er hatte Madeleine Vulpius die Hand aufs Knie gelegt, er hatte sich Schiffler offenbart, er war mit ihm zu Bergengruen gefahren, um die Frau wankend, aber irgendwie zufrieden aus dem Haus kommen zu sehen, von der Nummer mit dem Interview des erschöpften Beschälers gar nicht zu reden. Jetzt musste er die Konsequenzen tragen. Schiffler würde sein Wissen gnadenlos gegen die Vulpius verwenden, keine Ahnung, wie, aber er würde es tun. Man musste es verhindern. Vielleicht, indem man sich selbst Wissen über Schiffler beschaffte? Fakten, die diesem so unangenehm wären, dass er...
Lars setzte sich auf, er war unruhig geworden. »Ich geh mal in die Cafeteria«, sagte er zu Dora. Die nickte nur und tat weiter so, als würde sie arbeiten.
*
Warum frohlockte er nicht? Schiffler hätte allen Grund dazu gehabt. Was er über Madeleine Vulpius erfahren hatte, konnte sie in der Welt der Wissenschaft desavouieren, zu einer Persona non grata erniedrigen, von den menschlichen Konsequenzen ganz zu schweigen. Alleine es sich vorzustellen müsste im Stande sein, ihm einen jener köstlichen inneren Orgasmen zu verschaffen, für die man nicht einmal eine Frau brauchte. Aber da war nichts. Keine Vorfreude, kein Hohn, selbst ein müdes Grinsen hätte man ihm mit Gewalt ins Gesicht schnitzen müssen.
Er kam gerade noch rechtzeitig zu seinem Hauptseminar über die Auswirkungen unbefriedigter Sexualität auf das Wahlverhalten. Es war ein komplexes und aus naheliegenden Gründen heikles Thema, für das sich selbst Politiker aus der ersten Reihe der Bundespolitik interessierten, und Schiffler führte seine Schützlinge mit der gewohnten Souveränität durch das Labyrinth des Stoffes. Heute waren alle vollzählig erschienen: die reizende Johanna, leider in festen Händen und hoffnungslos monogam, Gerlind, eine aparte Schönheit, deren sinnlich fordernder Mund
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