Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
aus irgendeinem Grund habe ich keinen Bock, mich mit der linken Autoseite zu befassen. Wieso bloß?«
» Nicht genug Platz?«, schlage ich vor. Die Hecke der Nachbarn musste dringend geschnitten werden– die grüne Pracht hing weit bis auf den Fußweg über. Zwischen den verwilderten Sträuchern und den parkenden Autos war kaum genug Platz zum Vorbeigehen.
Vickers runzelte die Stirn. » Könnte sein. Könnte aber auch sein, dass ich das Auto von dieser Seite einfach nicht sehe. Ich habe die ganze Zeit auf die rechte Seite geschaut– vielleicht sogar gestarrt. All meine Gefühle konzentrieren sich auf diese Seite. Ich setze sie mit der überfallenen Person gleich.« Er drehte sich um, damit er über die Straße auf die gegenüberliegenden Häuser sehen konnte. » Es kommt mir fast so vor, als hätte ihn jemand beobachtet. Ich frage mich, ob jemand von Ihren Nachbarn komische Gestalten hat hier herumschleichen sehen.«
Ich schaute in dieselbe Richtung wie er, und plötzlich kamen mir die Vorgärten alle wie das perfekte Versteck vor. Wieder fühlte ich dieses seltsame Kribbeln, das mich schon seit Tagen verfolgte– dieses ungute Gefühl, beobachtet zu werden. Ich wusste nicht, ob ich Vickers davon erzählen sollte. Ich wusste nicht, ob ich langsam verrückt wurde.
Bevor ich etwas sagen konnte, redete Vickers weiter. » Eins sagt mir der Tatort allerdings. Nämlich, dass der Täter sein Opfer kannte und wusste, dass ihm sein Auto viel bedeutete. Wir sollten uns also bei Mr. Turnbull mal nach seinen Bekannten erkundigen, sobald er wieder in der Lage ist, mit uns zu reden.« Sein Tonfall verriet, dass er eigentlich dachte: Falls er jemals wieder in der Lage sein sollte, mit uns zu reden.
Geoff war ausgesprochen pingelig, was sein Auto anging. Vor dem Einsteigen polierte er immer noch einmal darüber, wischte Schmutz und trockene Blätter unter den Scheibenwischern hervor und begutachtete es von vorn und hinten, ob alles in Ordnung war. » Sein Auto war so gut wie neu. Man sah schon von Weitem, dass er es über alles liebte«, sagte ich nachdenklich. » Dazu brauchte man ihn noch nicht mal zu kennen.«
» Aber man musste ihn kennen oder etwas über ihn wissen, um ihn so zuzurichten, verstehen Sie?«, hielt er mir entgegen. » Ich habe schon so einiges an Gewalttaten gesehen, aber bei dieser hier scheint es mir vor allem um Hass zu gehen.« Kopfschüttelnd und die Hände in die Hüften gestemmt sah er noch einmal zum Wagen hinüber. » Ich wüsste nur zu gern, wie das zusammenpasst.«
» Zusammenpasst? Womit zusammenpasst?«
Vickers schaute mich an. » Glauben Sie nicht, dass das alles auch damit zu tun hat, was der armen kleinen Jenny Shepherd zugestoßen ist? Warum sonst wären Blake und ich wohl hier?«
» Aber ich sehe keinen…«, setzte ich an. Er legte mir die Hand auf den Arm.
» Sarah, sehen Sie den Tatsachen ins Auge. Wir haben eine tote Schülerin. Dieser Mann– sie kannte ihn, weil er ihr Lehrer war– taucht weit entfernt von seiner Wohnung in einer Straße auf, die per Luftlinie unweit des Hauses liegt, in dem Jenny gewohnt hat. Er wurde von einem oder mehreren Unbekannten halb totgeprügelt. Jenny kam auf gewaltsame Weise ums Leben. Das sind einfach zu viele Zufälle, um sie zu ignorieren. Alles, was in dieser Siedlung passiert– wirklich alles–, könnte in Zusammenhang mit dem Mord an Jenny stehen. Wir haben es mit zwei äußerst brutalen Verbrechen zu tun, die sich von den üblichen Kriminalfällen in dieser Gegend ganz erheblich unterscheiden. Wenn ich jedes der beiden nur für sich betrachte, komme ich sicher hier und da ein wenig voran. Vielleicht habe ich sogar Glück und treffe zufällig auf einen Zeugen, oder mein Mörder wartet auf eine Gelegenheit, ein Geständnis abzulegen. Das ist zwar eher unwahrscheinlich, kommt aber ab und zu vor. Wenn ich beide Ereignisse weiterhin isoliert betrachte, warte ich auf einen Durchbruch, der sich möglicherweise bei keinem der beiden jemals einstellen wird. Wenn ich sie aber zueinander in Beziehung setze, ergeben sich plötzlich Muster, verstehen Sie? Linien überschneiden sich. Das ist wie Algebra: Man muss zwei Seiten des Problems kennen, um an die dritte zu gelangen.« Das Gesicht des Kommissars leuchtete vor lauter Begeisterung für seinen Beruf, er liebte ihn ganz offensichtlich. Ich ließ mich für einen Moment von seinem Algebra-Vergleich ablenken. Wie einem Kaninchen jagten meine Gedanken jener Erinnerung hinterher, als mir einst
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