Die Verraeterin
seinen Körper schoben. Seltsam in die Länge gezogene Geräusche durchdrangen die Schwärze, in der er schwebte, als ob er sich irgendwo weit weg oder unter Wasser befände. Er spürte Schmerzen, die jedoch ebenfalls merkwürdig weit weg zu sein schienen. Nur manchmal kamen sie näher und bohrten sich mit scharfen Krallen in ihn.
Er merkte, dass er hochgehoben wurde, dass jemand mit ihm sprach. Er merkte, dass man ihn rasch wegtrug, dass er sich bewegte, auch wenn er nicht verstand, wie das möglich sein sollte, weil er gelähmt war. Im Grunde war ihm das allerdings egal. Trotz der Übelkeit fühlte sich die Schwärze um ihn warm und beruhigend an. Er hatte nicht vor, sie so schnell wieder zu verlassen. Nach einer Weile spürte er kühle, frische Luft an seinem Gesicht und sog sie tief in seine Lungen.
Das half gegen die Übelkeit. Er sank ein wenig tiefer in die beruhigende Schwärze.
»Julian!«, rief eine männliche Stimme, die er von irgendwoher kannte. Wer auch immer es sein mochte – er klang besorgt. Eigentlich in Panik. Die Stimme sagte: »Wenn du jetzt stirbst, dann bringe ich dich verdammt noch mal um!«
Ha. Ha. Ha. Ihm gefiel der Besitzer dieser Stimme – wer es immer auch war. Er holte noch einmal Luft und spürte, wie sein Herz langsamer schlug. Es gefiel ihm, wie friedlich er sich auf einmal fühlte. Sein Körper löste sich langsam auf.
»Julian!«
Immer schwächer werdende Laute drangen an seine Ohren. Es waren die Laute von Tieren – ein leises Knurren, Heulen, Fauchen. Daneben gab es das Geräusch eines Motors, der ruckartig ansprang und dann regelmäßiger lief. Etwas Nasses und Raues strich ihm seitlich über das Gesicht, etwas Nasses und Kaltes drückte gegen seine Nase. Einen Moment lang wollte er versuchen, die Augen zu öffnen. Doch dann rief ihn wieder die Schwärze, die Dunkelheit, und er wandte sich ihr zu. Er sank, fiel, löste sich auf, gab sich glücklich und zufrieden der endlosen Leere hin.
Die ihm irgendwie bekannte Stimme rief flehend immer und immer wieder seinen Namen, bis sie schließlich schwieg und Julian sich ganz in der Dunkelheit auflöste.
30
Dominus öffnete mit dem wertvollen viktorianischen Brieföffner seines Vaters einen braunen Umschlag, wobei er sich bemühte, so genau wie möglich zu schneiden. Der Stapel Papiere von dem Labor in Mailand, den er herauszog, war über zwei Zentimeter dick. Eine große, schwarze Büroklammer hielt ihn oben zusammen. Dominus schickte den Diener weg, der den Umschlag gebracht hatte und sich nun verbeugte, und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, um dort rasch die Zusammenfassung auf der ersten Seite zu lesen.
… die Nukleotide, die als Probe A im Bericht erscheinen, wurden erfolgreich durch Probe G ersetzt …
Während Dominus las, rutschte der braune Umschlag unbemerkt aus seinen Fingern und segelte lautlos auf den Boden.
… wobei die Mutation mehrmals erfolgreich wiederholt wurde …
Sein Herz begann zu pochen. Hektisch wanderte sein Blick weiter nach unten, ans Ende der Seite.
… führten zu positiven Testergebnissen.
Seine Arme, die sich seltsam betäubt anfühlten, sackten herab. Er hob den Kopf und starrte auf die Steinstatue von Horus auf der gegenüberliegenden Wand. Der falkenköpfige Gott sah ihn mit leeren Augen in der Dunkelheit an. Draußen brach ein neuer Tag an. Doch hier, im feuchten Inneren der Katakomben, wich die Schwärze nie. Dominus hatte fünfundzwanzig Jahre gebraucht, doch jetzt würde er in der Lage sein, die Dunkelheit für immer hinter sich zu lassen. Er würde alles zurückholen können, was seiner Spezies gestohlen worden war. Und er würde den Tod über die Menschen bringen, wie er das schon so lange gewollt hatte. Jetzt brauchte er nur noch die Vollblut-Schönheit, die noch ohne Partner war und die er auf der Spanischen Treppe gesehen hatte, um sein Glück vollkommen zu machen.
Morgen um diese Zeit würde er sie haben. Der Traum von Demetrius hatte ihm das bewiesen.
»Majestät?«, murmelte Silas und trat in seiner typischen lautlosen Manier aus dem Schatten der Bibliothek. Er kam mit einer raschelnden Robe und dem schwachen Duft von Weihrauch näher, den sie hier unten ständig verbrannten, um den Gestank der alten Mauern zu übertünchen.
»Es ist Zeit, Silas«, flüsterte Dominus, der auf einmal von dem Aberglauben ergriffen wurde, es nicht laut aussprechen zu dürfen, da es sonst nicht geschehen würde. Doch er war ein Mann der Wissenschaft, ein Mann des Handelns. Er war nicht
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