Die Verraeterin
war zwölf Uhr. Das bedeutete: noch sechs Stunden bis Sonnenuntergang. Sie brauchte dringend einen Drink.
Als sie sich von der Spüle abwandte, traf sie die erste Hitzewelle.
Sie erstarrte mitten in der Bewegung und lauschte angestrengt. Ihre Sinne weiteten sich, während sie atemlos und, ohne sich zu rühren, dastand. Nur ihr Herz schien noch zu funktionieren, doch es pochte wie ein Vorschlaghammer in ihrer Brust.
Etwas – nein: jemand – war in der Nähe.
Ihre Hand flog zu dem Band um ihren Hals. Sie konnte sich nicht verwandeln. Sie konnte sich nicht schützen, wenn man sie angriff.
Noch ein Beben, diesmal eindringlicher und begleitet von einem schwachen männlichen Geruch aus Gewürzen und Schießpulver. Ihre Haut wurde heiß. Gefahr.
Sie rannte zu dem Holzblock mit den Messern, der auf der marmornen Arbeitsplatte stand, packte eines und hielt es fest, während sie sich panisch umsah. Wo war der beste Platz, um sich zu verteidigen? Sie wollte nicht mit dem Rücken an der Küchenwand enden. Sie wollte sich auch auf keinen Fall im Schlafzimmer verbergen, und im Wohnzimmer gab es sowieso kein Versteck. Man konnte sie zu leicht allein durch ihren Geruch ausfindig machen. Verdammt! Sie steckte in der Klemme. Wo war Xander?
Vor Unentschlossenheit wie gelähmt stand sie einen Moment lang da und war erst in der Lage, sich zu bewegen, als sie glaubte, Schritte im Gang vor der Tür zu hören.
Langsam schlich sie aus der Küche, das Messer in ihrer schweißfeuchten Hand. Sie sah sich um. Im Wohnzimmer schien alles normal zu sein. Die offene Tür in das Schlafzimmer ermöglichte ihr einen eingeschränkten Blick in den Raum, wo ebenfalls alles wie immer aussah. Der Geruch nach Gewürzen und viriler Männlichkeit wurde schwächer, bis nur noch ein bitterer, metallischer Geschmack der Angst auf ihrer Zunge zurückblieb. Die Schritte vor der Tür waren ebenfalls nicht mehr zu hören.
Wissen Sie, was er Ihnen antun wird, wenn er Sie erwischt ?
Mein Gott, sie hatte sich so lässig gegeben, als sie Xanders Frage beantwortet hatte. Und jetzt … Jetzt gab es sechs von diesen Ikati. Plus den Anführer. Was bedeutete, dass sieben Männer nach ihr suchten. Vielleicht sogar mehr.
Sie schluckte, um die Panik, die in ihr aufstieg, zurückzudrängen.
Mit echtem Bedauern dachte sie an die Tätowierung, die sie sich erst wenige Tage zuvor hatte stechen lassen. Sie dachte daran, wie wichtig ihr die Freiheit war, für die sie mehr als einmal ihr Leben riskiert hatte. In diesem Moment beschloss sie, dass sie sich umbringen würde, wenn man sie gefangen nahm. Auf keinen Fall würde sie zulassen, zu irgendeiner Art von Sexsklavin degradiert zu werden.
Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, fühlte sie sich ein wenig besser.
Leise schlich sie durch das Wohnzimmer und musterte die Eingangstür. In ihrem Körper breitete sich eine Unruhe aus, als ob eine Armee von Tausenden von Ameisen ihre Nervenenden auf und ab marschieren würde.
Ein Geräusch auf dem Balkon! Sie wirbelte herum, riss das Messer hoch und stieß einen leisen Schrei aus.
Auf der anderen Seite des Fensters stand einer dieser riesigen Ikati aus dem Petersdom. Seine Arme hingen locker an seinen Seiten herab, die Beine hatte er gespreizt, und in seinen Augen zeigte sich eine seelenlose Schwärze. Er war riesig, mit großen Knochen und schweren Muskeln ausgestattet. Sein ganzer Körper schien aus nichts weiter als Muskeln zu bestehen. Das war recht eindeutig, denn er war vollkommen nackt.
Und erregt.
Die Angst verlieh ihr Flügel.
Sie wirbelte herum und rannte auf die Haupttür zu, während ein schrecklicher, ohrenbetäubender Lärm aus splitterndem Glas den Raum erfüllte. Sie musste sich nicht umschauen, um zu wissen, dass er einfach durch die Scheibe getreten war. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und am liebsten hätte sie laut geschrien. Doch stattdessen flog sie durch das Wohnzimmer, den Vorraum aus Marmor und knallte in ihrer Eile gegen die Tür. Sie trat einen Schritt zurück, riss sie auf und sah sich dort einem neuen Schrecken gegenüber.
Noch einer. Riesig und mit schwarzen, toten Augen unter der Tür. Nackt. Der Wunsch zu überleben übernahm das Ruder. Sie riss den Arm hoch und stieß mit dem Messer nach dem Mann. Dieser wich nach rechts aus und entging so ihrem Angriff. Blitzschnell packte er ihr Handgelenk, gerade als das Messer in Richtung seines Kopfes flog. Sie versuchte sich loszureißen und knurrte durch zusammengebissene Zähne, doch sein
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