Die verratene Nacht
miteinander, sie lächelten, sie merkte, dass sie sich etwas entspannte. Sie fühlte sich in seiner Nähe wohl auf eine Art, wie sie es schon sehr lange bei niemandem mehr empfunden hatte.
Als ihre Patientin stöhnte, wandte Selena sich wieder schuldbewusst Maryanna zu. Die Todeswolke der Frau glitzerte in der Morgensonne. Blaugraues Glitzern, wie winzige Staubkörner, die sich drehten und durcheinander wirbelten, verriet ihr, dass die Zeit für die junge Frau jetzt gekommen war. Maryannas Begleiter warteten geduldig, während ihr Schützling seufzte und zitterte, gefangen in etwas, was nicht mehr Schlaf war, sondern das Hinübergleiten des Lebens in den Tod.
Maryanna hing länger zwischen Leben und Tod, als Selena gedacht hätte, die unheilvolle Wolke rollte sich zart in ihrer Ecke des Zimmers zusammen, während die Begleiter schweigend ausharrten. Die junge Frau, die mit rauer Verzweiflung geatmet hatte, öffnete die Augen und schaute Selena an, klar und ruhig.
„Ich gehe bald“, sagte sie, ihre Stimme leise und stockend. „Ich werde meinen Bruder wiedersehen und es wird alles gut sein.“
Selena nickte und streckte die Hand aus, um sie auf die Hand ihrer Patientin zu legen. Bereitete sie vor. „Was auch immer euch beide auf dieser Ebene voneinander getrennt hielt, wird nicht mehr wichtig sein, denke ich. Nachher.“
Maryanna lächelte voller Frieden, trotz all dem, was – wie Selena wusste – ein grauenvoller Schmerz sein musste, wegen der Infektion, die sich in ihren Körper eingeschmuggelt hatte, die ihr jedes kleine bisschen Energie entzog und sie als wenig mehr denn Haut und Knochen zurückließ. „Er wartet auch auf mich. Danke, dass du mir all die Tage zugehört hast.“
Selena erwiderte ihr Lächeln und ergriff die schwächer werdende Hand von Maryanna noch fester mit der ihren. „Deswegen bin ich hier. Ich lerne von jedem Einzelnen von euch, die ihr zu mir kommt.“
Und so war es. Jede Seele, die sie in das, was auch immer nach diesem Leben kam, hinüber geleitet hatte, hatte sie innerlich berührt oder ihr etwas beigebracht, irgendwie – und nicht nur durch die Erinnerungen, die sie von ihnen erbte. Sie lehrten sie Vergebung und Gnade, Frieden und sogar das Lachen. Oft Lachen.
Und dann waren da die Zombies ... diejenigen, mit denen sie nur im Augenblick ihrer Erlösung kommunizieren konnte. Das waren die, die ihr am Schlimmsten zusetzten.
„Hast du große Schmerzen?“, fragte sie, als sie ein kurzes Aufblitzen der unwillkürlichen Grimasse sah. Es gab so wenig, was sie hier tun konnte ... aber sie würde es versuchen.
Die Lippen der Frau waren schmal und der Frieden in ihrem Lächeln verebbte etwas. „Es ist fast vorüber. Ich ... ich kann es aushalten.“
Die Begleiter rührten sich nun und Selena sah, wie sie die Hände nach Maryanna ausstreckten. Und zwischen ihnen, dahinter, war ein junger Mann, der wartete. Die einzige Person, die Maryanna sehen musste, bevor sie loslassen konnte ... und genau das tat sie jetzt.
Der Schleier von Pein verschwand aus ihrem Gesicht, wurde ersetzt von einem glückseligen Ausdruck, als sie aus ihrem Körper hinaus in die Arme der Begleiter glitt. Und sie starb: Der Ansturm der Erinnerungen brach über Selena herein, prickelte und raste in flackernden Bildern durch sie hindurch.
Als Maryanna gegangen war, tat Selena, was sie stets tat. Sie verbrachte einige Augenblicke im stillen Gebet, erinnerte sich an ein paar der Bilder, die im Moment des Todes wie eine Art privater Fürbitte in ihrem Kopf aufgeblitzt waren.
Manchmal war das fast so schwer wie der Augenblick des tatsächlichen Todes, wenn sie diese Bilder von Freude und Glück betrachtete. Aber am schwierigsten waren die Wütenden oder Verängstigten. Die Traurigkeit und die Trauer.
Es war, als würde sie jedes Gefühl jeder Person wieder und wieder durchleben. Aber sie tat es; in Erinnerung an die Person, die gestorben war. Dann wickelte sie den Körper in ein mit Zitrone parfümiertes Tuch. Er konnte dann der Familie übergeben werden oder, falls es keine gab, zur Einäscherung nach Yellow Mountain gebracht werden.
Selena schaute auf Maryanna runter und wünschte sich, dass es immer so einfach wäre. So schmerzlos. So friedlich, dieses Hinübergeleiten einer Seele in das Danach.
Ihr Magen verdrehte sich und sie schaute nach draußen. Sie war achtzehn gewesen, als sie von ihrer anderen Verantwortung erfahren hatte. Von der Macht des rosa Kristalls.
Sie war eines Nachts jenseits der Mauern
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