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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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ist zu persönlich.
    Aber Quirin lässt mir keine Chance für einen Rückzug. »Ja? Als Kind? Hat jemand dir Geschichten erzählt?«
    Was soll’s. Es ist nicht wichtig, er kann es wissen. »Ja. Märchen. Meine Ziehmutter sagte, sie seien sehr alt. Die Geschichte von den Geschwistern und der Hexe, von dem Mädchen mit dem Glasschuh und den bösen Schwestern, von dem Zwerg mit dem geheimen Namen.« Ich lasse Quirin nicht aus den Augen. Keine Frage, er weiß, wovon ich spreche. Kennt die Erzählungen.
    »Besonders mochte ich das von der schlafenden Prinzessin hinter der Dornenhecke.« Ich streiche mir das Haar zurück, lege meinen Hals frei. Ein uraltes Signal dafür, dass man sich ausliefert, dass man die Überlegenheit des anderen akzeptiert. Je harmloser ich wirke, desto größer sind meine Chancen, dass Quirin meine wie nebenbei gestellten Fragen beantwortet.
    »Ich fand es nur schlimm, dass so viele der Prinzen in den Dornen sterben mussten. Wieso ist Ihr Clan eigentlich nach etwas benannt, das so spitz und schmerzhaft ist?«
    Quirin lächelt auf eine Weise, die mich denken lässt, dass er mein Manöver durchschaut, und wieder erinnert er mich an Grauko. »Spitz, ja, aber sie sind auch ein Schutz. Die Gründer unseres Clans haben in Höhlen überlebt, südlich von hier. Vor den Eingängen wuchsen zähe Dornbüsche und haben nachts die Tiere ferngehalten. Das besagt jedenfalls die Überlieferung.«
    Schutz ist das perfekte Stichwort. Wir sind allein in Quirins höchsteigenem Reich. Eine bessere Chance für eine Erklärung werde ich so schnell nicht wieder bekommen.
    »Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie uns Ihren Schutz angeboten haben. Auch im Namen der anderen.«
    Quirin nickt, wortlos, und ich nehme Anlauf für meinen nächsten Satz. »Ich würde sehr gerne wissen, warum. Sie kennen uns nicht. Sollten Sie bestimmte Erwartungen an uns haben, würde ich das gerne erfahren. Ich möchte Sie auf keinen Fall enttäuschen.«
    Quirin lächelt, er lässt seinen Blick über die Regale wandern, über Tausende alte Bücher voller Worte, Sätze und Gedanken, die Menschen niedergeschrieben haben vor langer Zeit.
    »Es gibt keine Aufzeichnungen über das Entstehen der Clans und Stämme«, sagt er, als hätte er meine Frage nicht gehört. »Niemand hat unsere Anfänge dokumentiert, alle waren damit beschäftigt, bis zum nächsten Tag zu überleben. Und dann wieder bis zum nächsten. Damals –«
    Die Tür wird aufgerissen, Bojan stürzt herein, aus seinem blonden Zopf haben sich einzelne Strähnen gelöst, die ihm nun ins Gesicht fallen. »Flüchtlinge«, keucht er. »Noraner. Sie sagen, es gab einen Überfall, man hat ihre Häuser angezündet, letzte Nacht.«
    »Scharten?«
    Bojan schüttelt den Kopf, sein Blick zuckt zu mir, kaum sichtbar, aber ich begreife sofort. Keine Scharten, sondern Sentinel. Exekutoren.
    Ich habe nichts damit zu tun und müsste kein schlechtes Gewissen haben, aber ich spüre, wie ich erröte. Das zu unterdrücken, schaffe ich trotz allen Trainings nicht immer.
    »Es waren vier Trupps, heißt es, schwer bewaffnet. Es gibt Tote und eine Reihe von Gefangennahmen.«
    Quirins Lippen sind weiß geworden. »Aber warum? So lange war Ruhe.« Er dreht sich zu mir um, deutet auf einen kleinen Stapel Bücher, der auf einem Tischchen liegt. »Würdest du diese für mich begutachten? Ich kann nicht sagen, in welchen Sprachen sie verfasst sind, und nachdem du ja Spezialistin auf diesem Gebiet bist …« In seiner Stimme liegt nicht der Hauch eines Vorwurfs, weder offen noch versteckt, er ist mir gegenüber so freundlich wie eh und je.
    »Natürlich.«
    Er zieht seinen weißen Mantel enger um sich und folgt Bojan, der schon an der Tür wartet.
    »Es heißt, es sind Kinder darunter.« Mehr höre ich nicht, die Türflügel schlagen mit lautem Krachen zu.
    Exekutoren. Was, wenn sie auf der Suche nach uns sind, und was, wenn der Clan der Schwarzdornen das begreift? Es ist sehr einfach, sich auszumalen, was als Nächstes passieren wird. Sie werden uns ausliefern, ohne mit der Wimper zu zucken. Warum auch nicht? Dann werden wir sehen, wie viel Quirins Schutz der Stadt unter der Stadt wert ist.
    Besser, ich widme meine Aufmerksamkeit etwas anderem, Quirins Büchern zum Beispiel. Das erste auf dem Stapel ist keine Herausforderung. Ensaio sobre a Cegueira, das ist Portugiesisch und heißt so viel wie: Abhandlung über die Blindheit.
    Das nächste Buch ist schwerer einzuordnen, die Sprache beherrsche ich nicht, aber

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