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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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Höflichkeit, hätte Grauko das genannt. Quirin lächelt, aber er wird keinen Schritt zurückweichen.
    »Nein«, erwidert Sandor ungeduldig. »Ein Problem wird es sein, sie von hier wegzubringen. Die Noraner da draußen sind halb tot oder rasen vor Wut. Sie haben gehört, dass du einen Liebling hier versteckst, und einige von ihnen warten schon darauf, ihn zwischen die Finger zu bekommen. Wirst du Ria hierbehalten und auf sie achten?«
    Über Quirins Nasenwurzel hat sich eine steile Falte gebildet. »Nein, ich muss mich um die Flüchtlinge kümmern. Nimm sie mit ins Haupthaus, aber stell sicher, dass das Gesetz befolgt wird.«
    Sandor nickt kurz, dann zerrt er mich am Ärmel in Richtung Tür. »Ihr bedeutet nichts als Ärger«, murmelt er, ohne mich anzusehen.
    Wie zur Bestätigung dringen aufgebrachte Stimmen durch die Fenster herein, jemand weint. Die Laute kommen näher und entfernen sich wieder, zurück bleibt bedrückende Stille.
    »Zwanzig«, wiederholt Sandor, bevor wir den Saal verlassen. »Am liebsten Frauen und Kinder, die Männer bring anderswo unter.«
    »Und du«, herrscht er mich an, »benimm dich unauffällig. Bleib dicht bei mir und sprich mit niemandem.«
    Draußen lässt er mich los und ich folge ihm, halte aber mindestens zehn Schritte Abstand. Ich wünschte, ich wäre nicht auf seine Hilfe angewiesen, umso mehr, da er keinen Zweifel daran lässt, wie widerwillig er sie mir gewährt.
    Er sieht sich kein einziges Mal nach mir um. In mir tanzt kurz der Gedanke, einfach stehen zu bleiben oder einen anderen Weg zu nehmen. Vielleicht sogar zu fliehen. Die Idee ist hoffnungslos lächerlich und ich schließe zu Sandor auf.
    Das ist mein Glück, wie sich herausstellt, denn kaum treten wir aus der prachtvollen Bibliothek ins Freie, rempelt mich jemand von der Seite an. Eine drahtige Frau mit zu Krallen gekrümmten Fingern wirft sich mit all ihrem Gewicht auf mich.
    »Da ist sie! Kommt! Das Mädchen hatte recht, eine von ihnen war da drin!« Sie packt meine Handgelenke und umklammert sie mit aller Kraft. »Helft mir! Wir haben sie!«
    »Loslassen.« Energisch, aber ohne grob zu sein, löst Sandor die Finger der Frau von mir, doch sie bekommt meinen Pelzumhang zu fassen und legt die darunterliegende Thermokleidung frei. Noch lauteres Schreien ist die Folge.
    »Ein Liebling! Das Dornenmädchen hat die Wahrheit gesagt, sie haben Lieblinge aufgenommen!«
    Zwei weitere zerlumpte Gestalten tauchen hinter dem umgestürzten Reiterdenkmal auf.
    »Seht euch die Schuhe an!«
    »Ja, und die Jacke.«
    Sie nähern sich langsam, Vorsicht steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Ich gebe mir alle Mühe, ihnen freundlich entgegenzulächeln, ohne dabei ängstlich zu wirken. Der Blick offen, der Körper den Näherkommenden zugewandt.
    Ich bin so sehr auf sie und ihre schmutzigen Gesichter konzentriert, dass ich den Angreifer erst bemerke, als er schon zum Sprung angesetzt hat. Er prallt gegen mich, wirft mich um. Brennender Schmerz im Oberarm, Sandors Stimme. »Verdammt, bist du wahnsinnig geworden?«
    Das Gewicht wird von mir heruntergezerrt, es ist ein Junge, höchstens fünfzehn Jahre alt, aber groß gewachsen und durchtrainiert. Sein Gesicht ist spitz, als hätte jemand Nase und Backen nach vorn gezogen.
    »Sie ist ein Liebling, ich werde sie töten!«, keucht er in Sandors Griff.
    »Kaum.« Sandors Stimme ist bestimmt, aber nicht unfreundlich. »Mein Clan hat sie gefunden und Anspruch auf sie erhoben. Wenn du sie uns streitig machen willst, musst du um sie kämpfen. Das wäre nicht sehr klug.«
    »Aber … ihr schützt sie! Ihr verschont die Feinde!«, brüllt der Junge. »Weißt du denn nicht, was sie unseren Leuten letzte Nacht angetan haben? Abgeschlachtet haben sie sie, im Schlaf. Und ihr bewirtet sie wie Gäste!« Er sackt zusammen, als hätte jemand all seine Muskeln gleichzeitig durchtrennt. Sandor hält ihn, drückt ihn an sich wie einen Freund.
    »Ich weiß«, sagt er leise. »Ich weiß, wie es ist. Aber sie sind keine Gäste, sie sind Geiseln. Sie nützen uns nur lebend.«
    Abgeschlachtet, wieder ein Wort, das haften bleibt, es reiht sich ein neben: das Blut, die Schreie, die Toten. Die Erinnerung an Fiores Bericht über die todbringenden Versorgungspakete mischt sich darunter.
    Jedes dieser Worte sticht weit heftiger als der Schmerz in meinem Oberarm. Ein flüchtiger Blick zeigt mir, dass ich blute. Der Junge muss eine Waffe gehabt haben und sie ist, am Fellumhang vorbei, durch meine Thermojacke gedrungen.
    Wie

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