Die Verratenen
aber ich komme zu keinem Ergebnis.«
Sind Sie sich der Bedeutung von Jordans Chronik bewusst?, höre ich den farblosen Sentinel.
Sandor davon zu erzählen, hat keinen Sinn. Ich verstehe den Zusammenhang zwischen diesem Buch und dem, was uns widerfahren ist, selbst nicht. Wenn wir hätten beweisen können, dass wir Jordans Chronik nicht kennen – hätte uns das gerettet? Vermutlich nicht. Vermutlich hat der Sentinel die Chronik nur erwähnt, weil sie eine Art Gesetzbuch ist, in dem steht, was mit Verrätern zu geschehen hat.
Sandor lächelt, ohne dabei die Zähne zu zeigen. »Etwas an euch macht ihnen Angst. Vielleicht etwas, das ihr gehört oder gesehen habt, ohne dass euch die Hintergründe klar sind.« Er stößt einen Pfiff aus und hebt die Hand. Von hoch oben, aus dem Gemisch von Weiß und Grau und Blau, das der Himmel ist, kreiselt Kelvin herab. Er landet auf der behandschuhten Faust und bekommt ein kleines tiefrotes Stück Fleisch.
»Ich will wissen, was es ist«, sagt Sandor mehr zu sich selbst. »Ich will wissen, wovor die Lieblinge solche Angst haben. Deshalb habe ich Quirins Anspruch unterstützt. Solange er euch schützt, wird es niemand aus dem Clan wagen, euch etwas anzutun.«
Tycho balanciert auf einem brüchigen Dach nahe dem Haupthaus und hat etwas in der Hand, das wie ein langes, verzweigtes Stück Draht aussieht, an dem technisches Zeug hängt.
Inzwischen brennt und pocht die Stichwunde, ich würde sie mir gern in Ruhe ansehen, aber Tychos Tun lenkt mich ab, beunruhigt mich.
»Was machst du da?«
Er strauchelt kurz, findet aber mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht schnell wieder. »Ich versuche, eine Art Wetterstation zu bauen. Ganz simpel natürlich, aber sie könnte helfen, Unwetter und Schneefall vorherzusagen. Wir haben ein altes Digitalthermometer gefunden, das ich zum Laufen gebracht habe, und jede Menge anderes brauchbares Material.«
»Fall nicht runter.«
Er lacht. »Hab ich nicht vor. Bis später!«
Während ich ins Haus gehe, versuche ich herauszufinden, was genau mich an Tychos Aktion beunruhigt. Eine Wetterstation ist eine gute Idee, wenn die Prims lernen, damit umzugehen. Kein Problem also. Woher kommt dann das Kribbeln in meinem Magen?
Als ich im Keller die Thermojacke ablege und die Wunde begutachte, erweist sie sich als ausgefranst und schmutzig, immerhin blutet sie nicht mehr stark.
Mit entsetztem Gesichtsausdruck nimmt mir Fleming das schmutzige Tuch aus der Hand, das in der Mitte völlig durchnässt ist. »Ich hoffe, deine letzte Impfung ist noch wirksam.« Er ist vom Bodenfreilegen zurückgeholt worden, eigentlich soll er sich die verwundeten Noraner ansehen, doch die sind noch nicht eingetroffen. Seine Bewegungen wirken fahrig – ich kann ihn gut verstehen. Ihn werden sie ebenfalls als Liebling erkennen und möglicherweise ist ihnen egal, dass er nur helfen will.
»Ich denke schon. Ich habe mich immer an die Termine gehalten.«
Während er wieder Mundschutz und Handschuhe anlegt, was mich für die Dauer eines Wimpernschlags in die wohlige Ordnung des Medcenters zurückversetzt, ziehe ich eine weitere Kleidungsschicht aus. Nun sitze ich im T-Shirt da. Es ist kalt, aber erträglich. Und als Fleming beginnt, meinen Arm mit einer stechend riechenden Flüssigkeit zu reinigen, verschwinden ohnehin alle Gedanken an die Temperatur. Das Brennen ist kaum auszuhalten.
»Was, zum Teufel, ist das?«
»Alkohol aus Vogelbeeren«, antwortet er. Der Mundschutz dämpft seine Stimme. »Ich kann nur wenig verwenden, sie haben kaum Vorräte. Wenn du Tomma siehst, sag ihr, dass hier Sorbus aucuparia wächst, sie wird begeistert sein.«
Tomma kann mir momentan den Buckel runterrutschen, genauso wie Fleming, Sandor und der ganze Rest. Die Behandlung fühlt sich an, als würde jemand Feuer an meinen Oberarm halten. Ich höre mich winseln.
»Ich wünschte, ich könnte das vernünftig nähen«, murmelt Fleming. »Aber ich muss das Material für wirklich schlimme Verletzungen aufbewahren. Ein Verband wird genügen müssen.« Er tröpfelt Alkohol auf ein kleines Stück Stoff, legt es auf die Wunde und wickelt ein weiteres Stoffstück darüber. Das Ganze sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus.
»Das wär’s für den Moment. Ruh dich aus, ich gehe den Flüchtlingen entgegen. Andris meinte, es sind schwere Fälle dabei.«
Ausruhen klingt gut. Ich lehne mich zurück und beobachte Fleming, wie er seine Utensilien zurück in sein Medpack steckt. Dann geht er. Ich befühle den
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