Die Verratenen
zunehmend unruhig werden, sich rekeln, in der Kälte zittern. »Was denkst du, wie lange wir hier draußen überleben? Keiner von uns hat je außerhalb einer Sphäre zurechtkommen müssen, keiner ist diese Bedingungen gewöhnt. Ich gebe uns höchstens drei Tage, bis der Erste tot im Schnee liegt.«
Die nächste Stunde macht mir klar, dass Fleming wohl recht hat. Aureljo und Tycho zeigen es nicht, Dantorian und Tomma aber schon. Die Nacht hat sie mehr Kraft gekostet, als sie gegeben hat. Tomma wirkt abwesend und wie betäubt, sie stellt nicht einmal Fragen, obwohl sie immer noch nicht weiß, wieso ihre Welt plötzlich aus den Fugen geraten ist. Dantorian hingegen ist fahrig und gehetzt. Tycho hat mit ihm gesprochen und ihn ins Bild gesetzt; nun kann man förmlich zusehen, wie sich die Gedanken in Dantorians Kopf überschlagen. Er sucht nach Gründen, nach eigenen Fehlern, nach Anzeichen, die er ignoriert hat.
»Sie haben uns bisher nicht aufgestöbert, das ist ein gutes Zeichen«, versucht Aureljo uns Mut zu machen. »Ich denke, es ist am besten, wir sondieren die Lage und ziehen dann weiter. Von hier unten aus haben wir keine Chance, eine Lösung für unsere Situation zu finden.«
Unwillkürlich muss ich lächeln. Eine Lösung für unsere Situation finden ist eine Worthülse, die optimistisch klingen und verbergen soll, dass man im Grund völlig ratlos ist. Keiner von uns weiß, wie unsere Situation wirklich aussieht, und eine Lösung gibt es vielleicht gar nicht. Trotzdem wirkt Tomma nach Aureljos Worten etwas weniger verzweifelt.
Die Notfallsets, ausgelegt für drei Stunden im Freien, werden bei uns länger reichen müssen. In jeder Tasche befinden sich zwei Tuben, die eine nährstoffreiche Paste enthalten. Wir gehen sparsam damit um, kosten mehr, als dass wir wirklich davon essen. Ich habe keinen Appetit, aber mein Magen knurrt. Automatisch ziehe ich den Salvator zurate und hätte beinahe aufgelacht, als ich sehe, was er mir vorschlägt: drei Einheiten Eiweiß, vier Einheiten Kohlehydrate, drei Einheiten Fett, Vitamine. Achtung! Wasserhaushalt ausgleichen!
Wenigstens der letzte Punkt sollte unproblematisch sein. Schnee ist im Übermaß vorhanden.
Während wir uns zum Abmarsch bereit machen und so gut wie alles an Kleidung anlegen, was die Notfallsets hergeben, ist Tycho schon nach oben gelaufen. Die Lage erkunden, wie er sagt.
Es ist unvorsichtig und wir sollten widersprechen, aber andererseits ist es nötig. Und wenn einer von uns dafür geeignet ist, dann Tycho, ebenso flink im Kopf wie auf den Füßen.
»Was tun wir, wenn er nicht zurückkommt?«, frage ich Aureljo. Leise, die anderen müssen es nicht hören.
»Ihn suchen, natürlich. Aber er kommt zurück. Er weiß, was er tut.«
Ist Aureljo darüber informiert, dass Tycho ein Aufgelesener ist? Ich wüsste gern, ob irgendetwas in seinen Genen die Situation für ihn leichter macht als für uns. Er muss schon als Baby gefroren haben. Ist ihm das nadelstichartige Gefühl vertraut, das entsteht, wenn der Wind einem Schneekristalle ins Gesicht peitscht?
Meine Sorge war unbegründet. Tycho ist schneller zurück als erwartet.
»Sie ist weg«, keucht er. »Die Magnetbahn. Es ist auch … also … Sie haben nichts zurückgelassen.« Er spricht es nicht aus, aber er meint die Leiche.
Aureljo zuckt fast unmerklich zusammen. »Gut zu wissen. Dann lasst uns jetzt aufbrechen.«
»Wohin?« Ein trotziger Zug um Flemings Mund. Enttäuschung. Ich kann es nachempfinden, für ihn ist das Gefühl, verraten worden zu sein, noch neu. Er traut jetzt keinem mehr.
»Nach Süden«, bestimmt Aureljo nach kurzem Nachdenken. »Dort sind die Wetterbedingungen besser. Nicht viel, aber wir werden für jedes Grad mehr dankbar sein.«
»Ich würde auch nach Osten ziehen oder sogar nach Norden, wenn wir dann früher auf eine Sphäre stoßen«, gibt Fleming zurück. »Ich glaube, wir sind in der Nähe von Donau 3. Wir sollten versuchen, sie zu finden.«
Die anderen kennen Aureljo nicht so gut wie ich und selbst ich entdecke den bitteren Zug in seinem Lächeln nur mit Mühe. »Das ist eine Option. Auch wenn ich fürchte, dass wir dort nicht die Hilfe bekommen würden, auf die wir hoffen.«
»Natürlich nicht«, fällt Tycho ihm aufgebracht ins Wort. »Sieht ganz so aus, als hätte Fleming gestern nicht mitbekommen, was passiert ist.« Er stellt sich dicht vor ihn und spricht ganz langsam. »Sie haben Sentinel auf uns gehetzt und ich bin ziemlich sicher, dass sie das wieder
Weitere Kostenlose Bücher