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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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anderes. Ich habe Lennis gefragt, ob hier häufig Sentinel-Patrouillen durchkommen, und er sagte wörtlich: Nicht so oft wie anderswo. Sie mischen sich nicht gern in Stammesfehden ein. Sie. Er zählt sich nicht mehr zu ihnen, er muss länger hier sein als erst drei Monate. Zu wem zählt er sich also dann? Zu den Menschen, mit denen er seit Jahren lebt. Er rechnet in Tagesmärschen, während die Sentinel lange Reisen mit der Magnetbahn bestreiten, ihre Patrouillen dauern nur in den seltensten Fällen bis in die Nacht an. Für eine Gesellschaft wie die der Clans, die nicht über Bahnen oder andere Fahrzeuge verfügt, ist der Tagesmarsch hingegen eine vernünftige Maßeinheit, um Entfernungen zu bestimmen.«
    Ich mache eine kurze Pause, um das Gesagte wirken zu lassen. In Sandors Gesicht rührt sich kein Muskel, seine Aufmerksamkeit ist wie ein gebündelter Lichtstrahl, unter dem mir allmählich warm wird. Es ist keine wohlige Wärme.
    »Er lebt aber nicht nur mit euch, er fühlt auch wie ihr. Als jemand von uns den Begriff Prims gebrauchte, ist er zusammengezuckt. Nicht stark, aber es war klar, dass ihn das Wort störte und dass er es schon lange nicht mehr gehört hat.«
    Im Unterschied zu Lennis irritiert die abfällige Bezeichnung Sandor nicht im Geringsten. Er blinzelt nicht einmal.
    »Woher weißt du das mit der Frau? Den Kindern? Er hatte Anweisung, nichts davon zu erzählen.«
    »Hat er auch nicht.« Es fällt mir schwer, mir meine Genugtuung nicht anmerken zu lassen. Ich habe recht, habe aus allem die richtigen Schlüsse gezogen. »Dass er sich mit einer Gruppe, die er erst kurz kennt, mehr verbunden fühlt als mit den Menschen, mit denen er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hat, spricht dafür, dass er starke neue Bindungen geknüpft hat. Dazu zählen sicher auch Freundschaften, aber die stärkste Bindung haben Menschen zu ihrer Familie.« Ich glaube, man sieht mir nicht an, dass ich das nur vom Hörensagen weiß. Trotzdem ist das Thema relativ unsicheres Terrain, also rede ich schnell weiter.
    »Das ist natürlich kein Beweis. Aber Lennis hat Flecken auf seiner Uniform, die eine deutliche Sprache sprechen. Sie sind hell, stammen von einer dünnen Flüssigkeit und finden sich nur an seiner linken Schulter.« Ich erinnere mich gut an diese Flecken, ich habe sie oft genug von meiner eigenen Kleidung geputzt. Früher, wenn ich Baja geholfen habe. Und bei meinen Besuchen in der Auffangstation.
    »Es ist Milch. Wenn kleine Kinder trinken, schlucken sie eine Menge Luft, von der sie Bauchschmerzen bekommen können. Deshalb nimmt man sie hoch und versucht, sie ein Bäuerchen machen zu lassen. Dabei kommt meistens ein wenig Milch mit hoch und im Allgemeinen landet sie auf der Schulter desjenigen, der das Kind gerade hält. Ich glaube nicht, dass die Männer eures Clans fremde Kinder hüten, und schließe daraus, dass es Lennis’ eigener Nachwuchs war, der ihn bespuckt hat.«
    Sandor sieht mich nicht mehr an. Er fixiert die Tischplatte, sein Mund bewegt sich, als würde er an etwas kauen.
    Ich kann davon ausgehen, dass er niemals Training in Emotionskontrolle bekommen hat, also müssten seine Reaktionen eigentlich unverfälscht sein. Dafür fallen sie spärlich aus. Es ist nicht zu übersehen, dass er nachdenkt, aber welche Richtung seine Gedanken nehmen, ob meine Darbietung mir genützt oder geschadet hat, kann ich kaum abschätzen.
    »Prims«, sagt er schließlich. »Ihr verwendet das Wort also immer noch. Und? Zufrieden? Entsprechen wir eurer Vorstellung von primitiven Tieren in Fellen?«
    Den Weg, auf den er mich leiten will, werde ich nicht einschlagen. »Im Gegenzug nennt ihr uns Lieblinge«, erwidere ich. »Wieso?«
    Sein Kopf zuckt hoch. Die Ungläubigkeit in seiner Miene ist nicht gespielt. »Das weißt du nicht?«
    »Woher sollte ich?«
    Er antwortet nicht, sieht mich einfach nur an. Lang anhaltender Augenkontakt scheint ihm nicht die geringsten Probleme zu bereiten.
    »Ihr folgt mir und ihr tut gut daran«, sagt er. Es klingt wie ein Zitat, und als er weiterspricht, wird mir klar, dass es genau das ist. »Euer Vertrauen macht euch zu Gewinnern, zu Lebenden, zu Lieblingen des Schicksals.«
    Das ist es also. Die Rede Melcharts, anlässlich des Einzugs in die Sphären. Es gibt Ton- und Bilddokumente davon; an manchen Feiertagen werden sie uns vorgespielt. Der große alte Mann mit der runden Brille und dem Gehstock. Ich sehe das Denkmal in der Zentralkuppel vor mir, vom Café Agora aus hatte man es gut im

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