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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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Blick. Melchart, wie er sich mit der rechten Hand auf seinen Stock stützt, während die linke auf dem Modell einer Sphäre liegt. Von ihm erdacht, von ihm verwirklicht.
    Heimweh schwappt über mich hinweg, so heftig, dass ich das Bedürfnis habe, mich festzuhalten.
    »Woher kennst du die Rede?«
    Sandors linker Mundwinkel hebt sich belustigt. »Jeder kennt sie, man kann sie nachlesen und die Geschichtenerzähler können sie Wort für Wort wiedergeben. Immerhin betrifft sie uns genauso wie euch. Die einen werden gerettet, die anderen zu Hunger, Krankheit und ewiger Kälte verdammt.«
    Das Thema ist mir vertraut wie kein zweites. In unzähligen Lektionen habe ich es mit Grauko durchgearbeitet, jede einzelne Facette beleuchtet.
    »Es stand jedem frei, damals«, sage ich. »Allen wurde erklärt, welche Katastrophe auf uns zukommt. Dass so viele die Warnung in den Wind geschlagen haben, ist tragisch, aber man kann es nicht denen anlasten, die die richtige Entscheidung getroffen haben.«
    Er hebt das Kinn, und obwohl er sitzt und ich stehe, schafft er es, auf mich herabzublicken.
    »Das hast du sehr artig auswendig gelernt. Und du vertrittst deine Position mit viel Überzeugung. Aber was ist mit den Kindern, den Enkeln und Urenkeln der Menschen, die diesen Fehler begangen haben? Keiner von uns hatte die Wahl.« Sandor lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander. »Doch nur so funktioniert das System, nicht wahr? Die Lieblinge des Schicksals und die Ausgebeuteten.«
    »Niemand beutet euch aus«, falle ich ihm ins Wort. »Im Gegenteil, wir arbeiten Tag und Nacht an Lösungen, wie sich die Welt für alle wieder bewohnbar machen lässt, wir bauen neue Sphären, um mehr Menschen aufnehmen zu können, wir –«
    »Wer hat dir denn das weisgemacht?« Die Worte brechen mit einem Lachen aus ihm heraus. »Glaubst du das? Tatsächlich?«
    »Ich weiß es.«
    »Du wirst staunen.« Er steht auf, schlägt den grünen Umhang enger um seine Schultern, dann geht er um den Tisch herum und lehnt sich dagegen. Zu nah, aber ich trete nicht zurück. »Oder du spielst nur die Unwissende. Wer beobachtet wie du, der lügt mindestens ebenso gut. Warten wir es ab.«
    »Ich lüge nicht!«
    Er schnellt auf mich zu, voller Wut. Wieder schafft er es, mich zu überraschen. Unwillkürlich stolpere ich zwei Schritte zurück, stoße gegen die Wand.
    »Dann bist du dumm. Das ist genauso schlimm.«
    Ich weiß nicht, warum Sandors Worte so sehr an meinem Stolz kratzen. Er ist nur ein Prim. Wahrscheinlich ist es genau das. Ihm steht kein Urteil über mich zu.
    Ich möchte ihm entgegenschleudern, dass er in den Sphären nicht einmal zum Schuheputzen taugen würde. Dass er keine Ahnung hat von dem, was wir dort tun, woran wir forschen. Dass ich zur Elite der Borwin-Akademie gehöre, vielleicht einmal eine Sphäre leiten oder sogar in der Regierung des Bundes sitzen werde. Dass jemand, der mich dumm nennt, sich unendlich lächerlich macht.
    Wozu?, meldet sich Grauko in meinem Kopf. Wem nutzt dieser Ausbruch? Der Sache oder deiner Eitelkeit?
    Ich beiße mir auf die Lippe. »Ich fürchte«, sage ich betont ruhig, »dir fehlt der Überblick, um zu beurteilen, was wahr und was gelogen ist. Soweit es mich betrifft, sehe ich keinen Grund, euch anzulügen.«
    Wieder verringert Sandor den Abstand zwischen uns. Die bernsteinfarbenen Sprenkel in seinen Augen glühen wie Funken eines außer Kontrolle geratenen Feuers.
    »Natürlich nicht«, flüstert er. »Wir sind ja auch nur … Prims, nicht wahr? Denen der Überblick fehlt, wie du es so treffend formuliert hast. Eine hübsche Umschreibung dafür, dass du uns für dumm hältst, so wie es fast alle Lieblinge tun.« Er beugt sich so weit vor, dass sich unsere Gesichter beinahe berühren. »Das hat den einen oder anderen schon den Kopf gekostet.«
    Ich antworte nicht. Lächle nur.
    Sandor wendet sich brüsk ab, stürmt zur Tür und reißt sie auf. »Andris!« Er ist mindestens so wütend wie ich, kann es aber viel schlechter verbergen. Ich lächle weiterhin und hoffe, er spürt meine Verachtung.
    Dann erscheint Andris in der Tür. »Than?«
    »Bring den Liebling zurück zu den anderen. Wir entscheiden später, was mit ihnen passiert.«
    »Ist gut.« Andris packt meinen Arm und zerrt mich aus dem Raum, die Gänge entlang, die wir gekommen sind, die Treppen hinunter, bis wir im Keller stehen. Er öffnet die Tür zu unserem Kerker und stößt mich hinein.
    Aureljo fängt mich auf, hält mich fest. »Ich bin so froh,

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