Die Verratenen
er. »Stellt euch vor, sie versuchen, ein paar alte Generatoren wieder in Gang zu bekommen. Erinnert ihr euch an den Fluss, den wir überquert haben? Dort möchten sie Strom erzeugen. Ist das nicht großartig?«
Ich lasse ihn keine Sekunde aus den Augen. Seine Begeisterung ist echt und er wirkt völlig unbefangen, scheint nichts zu verbergen. Aber auch das kann man trainieren.
Er will nichts von unserem Essen, behauptet, die Prims hätten ihm bereits ein bisschen Fleisch und eine Art gekochte Knolle gegeben.
»Gut. Dann bleibt für uns mehr«, meint Dantorian mit einem verzerrten Lächeln.
Niemand denkt sich etwas dabei, niemand schöpft Verdacht, außer mir. Aber ich bin auch die Einzige, deren Salvator Nachrichten empfängt.
Ich lege meine rechte Hand über das Display und kämpfe gegen die Versuchung an, die Botschaft noch einmal zu lesen. Wozu auch? Sie hat sich so tief in mein Gedächtnis gegraben, dass ich nur die Augen zu schließen brauche, um sie vor mir zu sehen.
Sie sind euch wieder auf der Spur. Einer von euch ist ein Verräter.
Einer von uns.
Mein erster Gedanke beim Lesen der Nachricht war: Wieso steht hier nicht, wer?
Wer auch immer mich warnen will, er oder sie, weiß es selbst nicht. Anders kann ich es mir nicht erklären. Doch es gibt noch eine zweite Möglichkeit: Es könnte sein, dass die Nachrichten dazu gedacht sind, mich zu verunsichern. Das ist der optimale Weg, um Zwietracht zu säen. Angenommen, der Sphärenbund ahnt nicht, wo wir stecken, und will sicherstellen, dass wir uns zerstreiten und uns dann, auf uns allein gestellt, in der Wildnis verlaufen – dann ist das die beste Methode.
Einer von euch ist ein Verräter.
Ohne dass ich es bewusst steuern kann, sehe ich wieder Grauko vor mir, der es gut meint, der mir helfen will. Ihm vertraue ich, mehr als jedem sonst.
Aber ebenso gut könnte der farblose Sentinel die Botschaft geschickt haben.
Um meine Schultern legt sich ein Arm. Aureljo. Ich drücke meine Stirn gegen seine Schulter und versuche, den roten Faden, der durch das Labyrinth meiner Gedanken führt, nicht zu verlieren. Ich muss mich konzentrieren.
Er drückt mich fester. »Was geht dir durch den Kopf, Ria?«
Am liebsten würde ich es ihm sagen, weil er Aureljo ist und ich ihn liebe, ihn besser kenne als jeden anderen. Weil wir mit der Nachricht zu zweit besser umgehen könnten.
Aber ich tue es nicht.
Einer von euch.
Aureljo ist einer von uns. Und auch wenn nichts in mir daran glaubt, dass er derjenige ist, der uns verraten hat, erinnere ich mich noch daran, wie er anfangs auf meine Warnung reagiert hat, wie er mir einreden wollte, dass ich das Gespräch in der Bibliothek falsch verstanden habe. Wie er noch am gleichen Abend zu Morus gegangen ist.
Ich werde ihm nichts sagen. Noch nicht. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Lippen, rücke ein wenig von ihm ab und rolle mich auf dem Boden zusammen. Ein Teil von mir, der viel jünger ist als der Rest, möchte am liebsten weinen.
Den ganzen Abend über sage ich kaum ein Wort, versuche schärfer zu beobachten denn je. Vielleicht verhält sich der Verräter verdächtig. Aber dem ist nicht so oder ich übersehe die Anzeichen, weil es zu dunkel ist.
Es ist noch schlimmer als gestern befürchtet: Wohin wir uns auch wenden, wem wir begegnen, was wir tun. Jeder ist ein Feind.
Jetzt weiß ich, es ist noch einer mehr und er ist hier in diesem Keller.
22
Der nächste Morgen kriecht grau und kalt herein. Tomma hustet und lässt sich von Fleming in den Hals sehen; Dantorian will uns weismachen, dass sein Bein sich besser anfühlt. Keiner, der es ansieht, kann das glauben. Rund um die Bissstellen ist das Fleisch gerötet und angeschwollen; als Fleming dagegendrückt, quillt gelber Eiter hervor.
»Nicht gut«, murmelt er mit zusammengebissenen Zähnen, dann geht er zur Tür und schlägt gegen das Metall, kräftig und ausdauernd.
Nicht lange und vor der Tür geht jemandem die Geduld aus. »Aufhören, sofort!«
»Erst, wenn du öffnest!«, brüllt Fleming.
»Vergiss es«, höhnt der Wachposten.
Doch Fleming hämmert weiter gegen die Tür, bis ihm der Schweiß auf der Stirn steht und ich knapp davor bin, ihm an die Gurgel zu gehen, weil ich den Lärm nicht mehr ertrage.
Dann fliegt die Tür auf und ein großer Mann mit schwarzem Haar, das ihm fast bis zum Gürtel reicht, stürzt herein. Sein Gesicht ist rot und die Spitze seines Speers zeigt auf Fleming. »Was?«, faucht er. In der einen Silbe liegt so viel Mordlust, dass ich
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