Die Verratenen
lebhaftes Gespräch ist im Gang.
Aureljo und Tycho waren heute den Jägern zugeteilt und am Erlegen eines Wildschweins und dreier Kaninchen beteiligt.
»Sie haben uns als Treiber eingesetzt«, erklärt Tycho. »Das heißt, wir mussten das Wild suchen und auf die Jäger zutreiben. Mach das mal bei einem Wildschwein – ich habe noch nie so ein riesiges Tier gesehen, mit Hauern rechts und links.« Zur Demonstration legt Tycho die gekrümmten Zeigefinger neben seine Mundwinkel. »Aber die Prims beherrschen ihre Waffen. Ihr hättet das sehen müssen. Ich will kein Sentinel sein, der ihnen in die Quere kommt.«
Habt ihr einen Fahnder gesehen?, würde ich gern fragen. Habt ihr Nachrichten auf eure Salvatoren bekommen?
Den ganzen Tag über war ich zu abgelenkt, zu beschäftigt oder zu verängstigt, um an die Warnung zu denken. Einer von euch ist ein Verräter. Erst jetzt stellt sich das dumpfe Gefühl wieder ein. Misstrauen. Ich kann niemanden fragen, weil jeder der Falsche sein könnte. Außer Aureljo – und sogar das widerspricht den Lektionen, die ich erhalten habe. Wäre dies eine Simulation an der Akademie, würde ich dafür Punkte abgezogen bekommen.
Tomma ist so müde, dass ihr immer wieder die Augen zufallen, während Tycho berichtet. Ihr Kopf sinkt auf die Brust, bevor sie ihn mit einem Ruck wieder hochreißt. Doch als Aureljo sie auffordert, von ihrem Tag zu erzählen, wird sie munterer.
»Wir haben Boden freigelegt«, verkündet sie. »Die Prims sind weniger dumm, als ich dachte. Sie schaufeln einfach den Schnee weg, besonders an den Stellen, die von der Sonne beschienen werden könnten. Sie sagen, dort wird bald etwas wachsen, und an manchen Plätzen ist das schon jetzt der Fall. Sie halten sogar Ziegen und ein paar Schafe. Wenn es wärmer wird, wollen sie etwas anbauen, wie schon die letzten Jahre. Ich habe sie gefragt, was, aber sie wollten es mir nicht verraten. Etwas Essbares jedenfalls.« Sie rutscht tiefer, legt sich seitlich auf den Boden, die Hände unter der Wange gefaltet wie ein Kissen.
»Habt ihr die Bäume gesehen? Fichten. Birken. Ich war in einem richtigen kleinen Wald, so wunderschön …« Damit schläft sie ein. Fleming deckt sie mit einem Fellmantel zu.
Ich kuschle mich an Aureljo. Ja, er könnte der Verräter sein, ich glaube es zwar nicht, trotzdem darf ich es nicht ausschließen. Aber er hat mir so gefehlt.
»Hast du die Sonne gesehen?«, frage ich ihn leise.
»Ja. Oh ja.«
»Ich hätte nie gedacht, dass sie so … warm ist.«
»Die Jäger sagen, sie zeigt sich immer öfter. Im letzten Sommer war der Schnee angeblich eine Zeit lang ganz verschwunden. Kannst du dir das vorstellen? Je weiter man nach Süden geht, desto wärmer wird es.« Aureljos Worte sind ebenfalls warm und klingen sehnsüchtig. Er drückt mich fest an sich. »Vielleicht …«
Ich warte auf den Rest des Satzes, doch er kommt nicht und ich will nicht nachfragen. Ich glaube, ich weiß ohnehin, was Aureljo sagen wollte: Vielleicht können wir hier leben. Überleben. Draußen. Wir müssen nicht in die Sphäre zurück, wir müssen uns nicht töten lassen. Die Prims schaffen es auch. Wir könnten lernen, in der Außenwelt zurechtzukommen. »Ja, vielleicht«, murmele ich.
Obwohl ich nach den körperlichen Anstrengungen des Tages so erschöpft bin, dass jeder Muskel schmerzt, schaffe ich es nicht einzuschlafen.
Die anderen atmen ruhig und gleichmäßig, Aureljo schnarcht ein wenig. Als würde ein schnurrender Motor seine Lungen antreiben. Wir sind satt, jeder hat ein Stück Wildschwein bekommen, dazu wieder die harten Fladen, die hier das Hauptnahrungsmittel zu sein scheinen.
Jetzt ist es still im und um das Haus. Nur manchmal heulen draußen Wölfe, weit entfernt. Aber sie sind ebenso ausgesperrt, wie wir eingesperrt sind. Ich versuche, eine bequemere Liegeposition zu finden, ohne Aureljo zu wecken, der seinen linken Arm um mich geschlungen hat.
Er kann uns nicht an die Exekutoren verraten haben. Ich habe ihn den ganzen Abend über beobachtet und nichts als Sorge um jeden Einzelnen von uns in seinem Gesicht gesehen. Ohne dass es jemand von ihm verlangt hätte, übernimmt Aureljo die Verantwortung für uns, er wollte Tomma sogar die Hälfte seines Essens geben, weil sie so dünn ist.
Ich kann nicht glauben, dass er uns ausliefern will, ich wüsste keinen Grund dafür.
Außer, er glaubt, es sei zu unserem Besten. Dass er uns damit rettet. Dann würde er es wohl schaffen, sich über Tage oder Wochen hinweg zu
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