Die verschollene Karawane
wollte, dass die Wahrheit und die Geschehnisse von damals ans Licht der Öffentlichkeit kämen. Letztendlich war es dann Seyoums Hinweis auf die zwei Polizisten in Zivil, die sie begleiten würden, gewesen, der Jahzara zum Umdenken bewegt hatte.
Nun schien sie wie ausgewechselt. Enthusiastisch wechselte sie in einer Sprache, die Peter nie zuvor gehört hatte, mit dem jungen Mann am Steuer des Outborders ein paar Worte. Der junge Afrikaner, dessen rotes T-Shirt ein Portrait der Reggae-Legende Bob Marley schmückte, lächelte und steuerte auf die Flusspferde zu.
Jahzara war völlig aus dem Häuschen. »Sieh mal, das Kleine, ist es nicht süß! Diese winzigen Ohrchen, die kleinen Äuglein und die rosarote Schnute! Und da! Die Mutter! Wow! Sie hat ein Maul so groß wie ein Scheunentor. Und diese Zähne. Länger als dein Zeigefinger.«
Zum ersten Mal, seit er Jahzara kennen gelernt hatte, hatte Peter das Gefühl, dass in dieser Frau zwei Seelen schlummerten. Sie konnte unglaublich abweisend und extrem rational sein. Bei ihrem kurzen Ausflug am Morgen zu den Wasserfällen des Blauen Nils hatte sie sich allerdings schon einmal von einer ganz anderen Seite gezeigt. Mit großen, überglücklichen Augen hatte sie die tosenden Wassermassen bestaunt und war in lautes Jauchzen ausgebrochen, als ein Adler über den Fluten mit seinem lauten Ruf kreiste. Auch für ihn war dieser Abstecher zu den Nilquellen ein unvergessliches Erlebnis gewesen.
Der Nil hatte in der Entdeckungsgeschichte seit jeher eine mystische Rolle gespielt. Was für die Hochkulturen Ägyptens Aorta allen Seins gewesen war, die fruchtbaren, weil schlammhaltigen Wassermassen der »Mutter aller Flüsse«, sie hatten auch die alten Griechen und Römer beschäftigt. »Caput Nili quaerere«, die Quelle des Nils suchen, war zu einer sprichwörtlichen Redensart geworden, die Unmögliches umschrieb. Dieser Strom war schon immer eines der großen Rätsel Afrikas gewesen. Die Herrscher der Kaiserreiche von Aksum und Lalibela hatten den moslemischen Herrschern in Kairo sogar damit gedroht, den Nil umzuleiten, Ägypten faktisch auszutrocknen. Die ägyptische Regierung verstieg sich noch bis zum Jahre 2004 in die Drohung, man werde jedes nicht mit ihnen abgesprochene Nilwasserprojekt als Kriegserklärung betrachten. Ja, in diesem Strom einten sich unzählige Legenden und fantastische Mythen. Die Suche nach den Quellen eines der längsten Flüsse der Welt hatte wagemutige Forscher und Abenteurer aus aller Welt nach Afrika geführt. Viele waren bei dem Versuch umgekommen, seine Geheimnisse zu ergründen.
Peter ging all das seit dem Besuch der Wasserfälle des Blauen Nils nicht mehr aus dem Kopf. Hier, am Tanasee, lagen noch andere Geheimnisse verborgen. Nicht weit von den Wasserfällen des Blauen Nils war wahrscheinlich vor mehr als 600 Jahren eine geheimnisvolle Karawane aufgebrochen und dann irgendwo im Meer der Finsternis verschollen. Was immer damals auch passiert war, die Erklärungen für diese Geschehnisse lagen am Tanasee verborgen.
Allerdings beschäftigte Peter noch ein ganz anderes Geheimnis: Jahzara. Laszive Fantasien keimten erneut in ihm auf. Diese Frau verwirrte ihn in all ihrer Widersprüchlichkeit. Sie war ganz einfach anders als alle Frauen, die er je kennen gelernt hatte. Eine Äthiopierin mit einer europäischen Mutter. Sie beherrschte die Spielregeln des Abendlandes, war aber in ihrem Denken tief in Afrika verwurzelt. Auch wenn er bemüht war, sie zu verstehen, es gelang ihm nur selten. Dass er von ihrem Vater diese tragischen Zusammenhänge mit ihrem verstorbenen Zwillingsbruder erfahren hatte, erfüllte ihn mit Stolz, weil es ihm zeigte, dass Seyoum ihm vertraute. Aber was sollte er mit seinem Wissen anfangen? Er konnte nicht mit Jahzara darüber reden – das hatte er Seyoum versprochen. In seinem Verhalten ihr gegenüber konnte er es nicht berücksichtigen, ohne sie hellhörig werden zu lassen. Zu gerne hätte er sie in diesem Moment, in dem sie so herrlich unbefangen und glücklich die fünf Flusspferde bewunderte, in die Arme genommen. Doch das durfte er nicht!
Als das Boot langsam auf die kleine Klosterinsel zusteuerte, wusste Peter, dass zwischen ihm und Jahzara wahrscheinlich immer eine unüberbrückbare Kluft existieren würde. Sie lag in ihr begründet. Und nur sie konnte daran etwas ändern. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Jahzara hatte nach dem Tod ihres Bruders Barrieren errichtet, hatte sich abgekapselt, ihre eigene
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