Die verschollene Karawane
al Saif war verzweifelt. Vorsichtig schaute er sich um. Niemand beobachtete ihn. Langsam wandte er sein Gesicht gen Osten, nach Mekka, und murmelte kaum hörbar vor sich hin: »O Allah, vergib unseren Lebenden und Toten, den Anwesenden und Abwesenden, unseren Jungen und Alten, den Männern und Frauen. O Allah, wen du am Leben hältst, lass ihn im Islam leben. Und wen du sterben lässt, lass ihn im echten Glauben sterben. Allahu-Akbar, Gott ist größer.«
Der Statthalter des Schwertes atmete tief durch. Er schwitzte extrem unter dem braunen Sackleinenumhang. Der Kopfschleier erschwerte ihm das Atmen. Das grobe Tuch des Bettlers stank erbärmlich nach Urin und scheuerte an seinem nackten Oberkörper. Bis nach Gonder war er gekommen. Wie er Addis Abeba erreichen sollte, war ihm schleierhaft. Er schaute sich abermals um. Die Sonne stand noch ziemlich hoch. Nur wenige Menschen befanden sich in der Nähe der Christenkirche. Bedacht darauf, wie ein gebrechlicher, alter Mann zu wirken, schleppte er sich zur Außenmauer. Er hockte sich mit dem Rücken zur Wand und umwickelte mit den schmuddeligen Tüchern seine Hände. Der Verkleidung war perfekt. Jeder würde ihn für einen der vielen Bettler in der Stadt halten. Seine umwickelten Hände und die Tücher um seine Füße würden alle vermuten lassen, er sei ein Aussätziger. So einer wie der arme Teufel, den er erschlagen hatte, um ihm seine stinkenden Bettlerklamotten abzunehmen.
Sahib al Saif atmete ein wenig erleichtert durch. Wären nicht der Durst und dieser grauenhafte Geruch, der an diesen Bettlerfetzen haftete, es ginge ihm gar nicht so schlecht für einen Mann, der noch vor wenigen Stunden um Haaresbreite den Kugeln von Scharfschützen entkommen war. Die Pistole drückte unter dem Umhang gegen seine Rippen. Das kalte Metall verlieh ihm ein Gefühl der Sicherheit. Ja, bis hierhin war es gut gegangen. Allah hatte ihn in seinem grenzenlosen Wohlwollen geleitet. Und Glück hatte er auch gehabt!
Genau in dem Moment, in dem er mit dem Taxi wieder zurück zum Hotel Tana gekommen war, hatte er die Detonation gehört. Schüsse waren gefallen. Was wirklich geschehen war, konnte er nur ahnen. Wahrscheinlich hatte die Polizei sein leeres Zimmer gestürmt. Sie hatten ihn also irgendwie aufgespürt, waren ihm dicht auf den Fersen. Aus diesem Grund hatte er beschlossen, die Polizei zu narren. Dafür hatte er diesen Taxifahrer umbringen und den Fettwanst an seiner Stelle und mit seinem Pass verbrennen müssen. Diese niedrige Kreatur von Bettler hatte auch dran glauben müssen. War nicht schade um die beiden. Ein, zwei Tage Vorsprung würde ihm das sicherlich bringen.
Wenigstens gab es in Gonder einen Flughafen und damit zumindest eine theoretische Chance, früher oder später mit falschen Papieren nach Addis Abeba zu gelangen. Vielleicht musste er vorher noch nach Aksum. Aus dem Mailverkehr zwischen Jahzara und ihrem Vater wusste er, dass in Aksum ein Treffen stattfinden würde. Übermorgen! Bis dahin musste er unentdeckt bleiben. Er war optimistisch. Kein Polizist würde einen stinkenden, bis auf einen schmalen Sehschlitz verhüllten Aussätzigen kontrollieren. Schon gar nicht vor einer Kirche! Überleben würde er also. Was er genau tun würde, wusste er noch nicht. Doch er hatte eins entschieden: Die verschollene Karawane im Land der Finsternis würde er nicht so einfach vergessen. Von Gog und Magog würde er sich auch nicht abhalten lassen! Hier ging es nicht nur um irrsinnig viel Geld! Wenn er diesen Auftrag zu Ende führen würde, wäre auch sein Weg als Märtyrer ins Paradies sichergestellt.
Die Fahrt mit dem kleinen Boot zum Kloster Bete Kebran Gabriel dauerte knapp eine Dreiviertelstunde. Kurz bevor sie die kleine Insel erreichten, sprang Jahzara plötzlich auf und deutete aufgeregt in Richtung einer Schilfbank nahe dem Ufer.
»Da, schau mal, Nilpferde mit einem Jungtier!«
Peter registrierte ihr fast kindliches Lächeln. Jahzaras Augen glänzten, und ihre Haare flatterten im Fahrtwind des marode wirkenden Bootes, das sich mühsam durch die Wellen des Tanasees kämpfte. Er freute sich, dass sich Jahzara wieder beruhigt hatte. Der gestrige Abend war geprägt gewesen von endlosen Diskussionen zwischen ihr, ihrem Vater und ihm, ob sie ihre Recherche weiterführen oder die Reise aus Sicherheitsgründen abbrechen sollten. Jahzara war in einer sehr depressiven Stimmung gewesen. Mehrmals hatte sie angedeutet, dass es vielleicht eine höhere Macht gebe, die verhindern
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