Die verschollene Karawane
Christen? Pah! Selbst zu trinken bekam er nichts. Er fühlte sich krank, todkrank! Seine Lage erschien ihm aussichtslos. Bei der gestrigen Flucht vor dem Mob hatte er zudem den einzigen Draht zur Außenwelt, sein Handy, verloren. Abdul Qadir Dschila hatte er zuvor zwar in Kairo noch anrufen können. Seine missliche Lage war denen also bekannt. Aber das Problem war, dass er sich heute Abend telefonisch wieder melden müsste. Die beiden Derwische hatten ihm versprochen, ihn aus Äthiopien rauszuholen. Ohne Handy ging das nicht. Mist, verdammter! Er saß in der Falle. Das unrühmliche Gefühl beschlich ihn, dass Allah ihm zürnte. War der Allmächtige vielleicht zornig, weil er sich zur Sünde mit dieser Christen-Hure in Bahir Dar hatte hinreißen lassen? Oder ließ Allah ihn leiden wie einen räudigen Hund, weil er sich schon mehrere Tage in Folge nicht zu den obligatorischen Gebeten gen Mekka verneigt hatte?
»Allahu-Akbar«, murmelte er, schielte dabei vorsichtig gen Mekka und versuchte trotz des Hungergefühls versöhnlich zu klingen. Er spürte, wie der Wahn sich seiner Zunge bemächtigte. »Barmherziger, verzeih mir elendigem Sünder! Aber wie und wo soll ich mich in dieser mir fremden Stadt der äthiopischen Christen zum Gebet gen Mekka verneigen? Vielleicht lauern die Häscher des äthiopischen Geheimdienstes vor oder gar in den Moscheen.« Die täglichen fünf Pflichtgebete waren ihm unmöglich. Nein, das ginge nicht! Allah würde ihm das verzeihen. Er befand sich schließlich im Krieg. Im Dschihad muss das Gebet der Pflicht des Kampfes weichen. »Übe Nachsicht, Allmächtiger! Sieh, ich habe mein Angesicht in Aufrichtigkeit zu Dir gewandt, zu Jenem, der Himmel und Erde erschuf. Schenk mir al-Sakina, inneren Frieden und Zufriedenheit, auf dass ich dieses Land der Christen lebend verlassen werde.«
Nach dieser Fürsprache fühlte er sich besser. Gottvertrauen würde ihm Kraft geben. Aber er wusste auch, dass er sich nicht ausschließlich auf die Hilfe Allahs verlassen durfte. Er musste etwas tun. So schnell wie möglich!
Der Baum in der Nähe der großen Kirche, unter dem er sich niedergelegt hatte, spendete zur Mittagszeit angenehmen Schatten. Instinktiv spürte er, dass dies ein guter Platz war. Was er suchte, worauf er wartete, wusste er nicht. Doch seine Sinne waren geschärft. Mit lauerndem Blick schaute er sich um. Die Kirche zur Linken war riesig und ziemlich neu. Ein hässlicher, pompöser Betonbau. Nicht weit davon war ein ziemlich unscheinbares Kirchengebäude zu sehen. Eingezäunt von einem hellblau gestrichenen Zaun, verriet eigentlich nur das Kreuz auf der Kuppel, dass es sich um eine Kirche handelte. Auffällig waren allerdings die alten Ruinen und Reste von Fundamenten nahe der Kirche. Misstrauisch taxierte Sahib al Saif die Leute in seinem Umfeld. Nein, die wenigen Einheimischen sahen nicht wie zivile Polizisten aus. Vor der kleinen Kirche standen einige Touristen und fotografierten den grauen Bau mit den zwei vergitterten Fenstern in der Front. Was das wohl war? Er wurde neugierig. Vorsichtig schlenderte er zu einem Hinweisschild und überflog den Text. Sahib al Saif musste grinsen. Hier in Aksum hatte im vierten Jahrhundert die Christianisierung des Landes durch den Mönch Frumentius angefangen. Aber zerstört wurde die Stadt von seinem Glaubensbruder, jenem, den sie damals den »Linkshänder« nannten.
»Schau mal einer an«, murmelte Sahib al Saif vor sich hin, »bis hierher sind meine Glaubenbrüder damals gekommen, um das Wort Allahs zu verbreiten.«
Plötzlich erregte ein Satz auf dem Schild seine Aufmerksamkeit. Er starrte auf die Tafel, konnte nicht glauben, was er da las. Der Imam Ahmed Granj hatte nicht nur diese Stadt zerstört, sondern auch diese Kirche. Und was für eine Überraschung: In dieser winzigen Kirche, die früher mal eine riesige Kathedrale gewesen war, hatte angeblich die Bundeslade gestanden! Sahib al Saif war verwirrt. War diese Bundeslade nicht genau das, was die beiden Sufis suchten? Sie hatten ihm doch gesagt, dass die Wiederkehr dieser Lade den Beginn einer neuen Zeit einleiten, göttliche Gegenwart ausstrahlen und Quelle des Friedens sein würde. Die Juden, so hatten die Derwische sogar behauptet, würden dann die Wahrhaftigkeit des Imam Mahdi anerkennen und die Aufrichtigen unter ihnen sich dann sogar dem Imam anschließen. Wie war das denn möglich? Er suchte etwas, brachte Menschen um und riskierte sein eigenes Leben für etwas, das angeblich hier stand.
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