Die verschollene Karawane
Vormittag auch noch die Zeichen der Natur sagten, dass ein Unwetter aufziehen würde, hielten wir es für besser, euch entgegenzufahren, um euch zu warnen. Weißt du, wir haben ein Erdhörnchen bei uns im Kloster. Lange bevor ein Unwetter aufzieht, wird es extrem unruhig und versteckt sich in seiner Höhle. Es weiß oder spürt Dinge, von denen wir nicht mal wissen, dass sie existieren. Das Erdhörnchen hat uns dazu angehalten, euch zu Hilfe zu eilen.«
Jahzara hatte den Worten des Mönches aufmerksam gelauscht. Schon seit geraumer Zeit machte sie sich Gedanken, wie all diese geheimnisvollen Geschehnisse der letzten Zeit zu deuten seien. Was in den letzten Wochen geschehen war, konnte rational nicht mehr erklärt werden. Sie war zu sehr in den traditionellen Denkweisen ihres Volkes verhaftet, um nicht an überirdische Kräfte, an Geister und Dämonen zu glauben. Dämonen waren für sie engelsgleiche Geschöpfe Gottes, die nicht an Räume und menschliche Welten gebunden waren.
Eine ebenso große Bedeutung hatte die Vorsehung im Denken ihres Volkes. Vorsehung, das war sie schon als Kind gelehrt worden, steuert das irdische Dasein. Vorsehung, so hatte ihre Großmutter gesagt, »ist eine zweite, eine parallele Kraft. Unser Leben auf Erden ist kaum mehr als der ewige Kampf zwischen diesen beiden Kräften«. Davon war auch Jahzara fest überzeugt. In den letzten Wochen hatte sich das bestätigt. Seit gestern war sie nicht mehr von dem Gedanken abzubringen, dass überirdische Kräfte ihr Leben begleiteten. Peter hatte ihr von dem Traum des greisen Mönches erzählt. Nun schien es, als habe auch dieser Mönch einen ähnlichen Traum gehabt. Da war der Mann, der Linkshänder, der beiden erschienen war. War es der Araber, der ihr seit Venedig folgte? Dann dieser Sturm! Hatten überirdische Kräfte sie von einem Besuch der Insel Tana Cherkos abhalten wollen? Nur hier, in diesem Kloster, wusste man von der geheimnisvollen Karawane. Und wahrscheinlich auch von der Bundeslade. Hoffentlich würde dieser Abba ihnen davon erzählen.
Abba Giyorgis begann schon nach einer Viertelstunde Boostfahrt zu plaudern. Er sprach so offen, dass Peter Jahzaras Vater fragte: »Wieso erzählt er uns das alles? Wir sind doch Fremde für ihn.«
»Nein, Peter, wir sind keine Fremden für ihn«, antwortete Seyoum. »Das Band der Ahnen, das uns verbindet, ist die Basis für das Vertrauen, dass Abba Giyorgis in mich und in Jahzara hat. Was er uns erzählen wird, ist über viele hundert Jahre ein wohlgehütetes Geheimnis gewesen. Du solltest wissen, dass Tana Cherkos unter den mehr als zwanzig Klosterinseln des Tanasees diejenige ist, um die sich die meisten Legenden ranken. Die Heilige Familie soll hier auf der Flucht von Palästina nach Ägypten hundert Tage geruht haben. Hier wird ein Halsband aufbewahrt, dass der Jungfrau Maria gehört haben soll. Auf dieser Insel soll sogar die Bundeslade versteckt worden sein, nachdem Menelik I. sie aus Jerusalem entwendet hatte. Azarius, der Enkel des Hohepriesters Zadok aus Jerusalem, der die Bundeslade hierher begleitete, liegt ebenfalls hier begraben. Es gibt noch andere für unsere Religion bedeutsame Geschehnisse, die mit Tana Cherkos in Verbindung gebracht werden. Du siehst also: Abba Giyorgis wacht auf dieser Insel über mehr als 2000 Jahre Geschichte unseres Landes. Es gibt keinen besseren Ort in Äthiopien, um über die Geschehnisse zu reden. Ich hoffe, du bist dir im Klaren darüber, welches Vertrauen wir dir alle entgegenbringen.«
Peter schwieg. Seine Blicke folgten Jahzara, die sehr anmutig auf den alten Abt zuging und sich vor ihm niederkniete. Demütig senkte sie ihren Kopf, ergriff mit beiden Händen die Hand des Abtes und drückte sie lange gegen ihre Stirn.
Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass hier in Jahzara all die Dinge zum Leben erwachten, die sie so ungewöhnlich und anders machten. Ja, Jahzara trug unantastbares afrikanisches Gedankengut und eine afrikanische Gefühlswelt in sich. Eine, die völlig anders war und nie die seine sein konnte. In diesem Moment war sie ihm unglaublich nahe und doch so weit weg.
Während die beiden Boote nebeneinander Richtung Bahir Dar tuckerten, begann Abba Giyorgis zu erzählen: »Die Welt verändert sich. Viele Jahrhunderte hindurch waren wir Mönche der Klöster hier am See die Hüter allen Wissens. Niemand interessierte sich wirklich für uns. Seit einiger Zeit kommen aber immer mehr Fremde ins Land. Meistens sind es ehrliche, wissbegierige und sehr
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