Die verschollene Karawane
Überfluss. Wir schickten Boten durch die Wüsten und das Rote Meer zum Bischof nach Alexandria und baten um christlichen Beistand. Aber alle Boten verschwanden spurlos. Wir sandten Boten nach Lissabon und Madrid. Aber sie kehrten nicht zurück. Wir waren umringt von den Horden Allahs! Die Wege des Herrn, des Allmächtigen, sind unergründlich. Er ließ uns allein mit unseren Ängsten und Hoffnungen. Die Sultane metzelten unsere Krieger nieder, nahmen sich unsere schönsten Frauen, schlugen unseren Edelsten die Köpfe ab und zwangen uns dazu, fünf Mal am Tag zu lügen, dass Allah der einzige Gott sei. Unser Stolz wurde vom Wind in die Wüste geweht. Dorthin, wo es keine Hoffnung gab. Aber genau von dort drangen plötzlich von Karawanenführern Nachrichten durch das Meer aus Sand zu uns, dass Schiffe mit gewaltigen Segeln und einem Kreuz darauf die Meere durchsegelten, um uns Christen von Aksum und Lalibela Beistand zu leisten. Schon bald tauchten tatsächlich jene riesigen Karavellen an unseren Küsten des Eritreischen Meers auf. Männer in Harnischen und bewehrt mit Musketen nahmen den weiten, beschwerlichen Weg von den Küsten ins Landesinnere auf sich. Sie brachten frohe Kunde mit – und Männer in Kutten und mit Bibeln.«
Jahzara hörte dem Alten gebannt zu. Sie kannte die historischen Fakten aus jenen Zeiten. Tatsächlich waren die Portugiesen im Jahre 1493 am Hofe des Negus erschienen, um ein Bündnis mit Äthiopien zu schließen. Unter dem Sohn von Vasco da Gama war es portugiesischen Hilfstruppen sogar gelungen, die islamischen Truppen aus dem Sultanat Adal vernichtend zu schlagen. Dann aber waren dramatische Dinge geschehen.
Abba Giyorgis hatte zwischenzeitlich abermals seine Brille abgenommen. Beim Sprechen hielt er die Augen geschlossen. »Wahrlich, unter den Abgesandten des portugiesischen Königs waren achtbare Männer. Sie trugen Gutes im Herzen. Einer von ihnen, von edelster Abstammung und mächtiger Statur, erwärmte das Herz einer äthiopischen Prinzessin vom Hofe der Kaiserin Eleni mit Liebe. Doch da waren diese Männer aus Rom, allesamt Priester. Sie predigten Nächstenliebe, säten aber Hass. Wieder und wieder verlangten sie, dass unsere Priester und Gläubigen sich Rom unterwerfen sollten. Sie taten es mit so viel Lug und Trug, dass man sie und ihre gespaltenen Zungen in einsame Klöster verbannte, wo sie keinen Unfrieden mehr stiften konnten. Die Welt erzitterte derweil unter dem Trommeln der Hufe der Rösser des Sultans. Sie ritten so unglaublich schnell durch Nubiens Wüsten, dass kein Zweifel bestehen konnte, dass der Satan Gog und Magog, die Fürsten der Unterwelt, am Jüngsten Tag befreit hatte und die Sendboten des Verderbens die Pferde der Muslime auf ihren Rücken gen Süden trugen. Welch Wehklagen erhob sich in unserem Land! Es war der Beginn der dunkelsten Zeit unseres Volkes. Gott hatte unser Land verlassen! Todesangst ließ uns schließlich zu willfährigen Bittstellern werden. Wir verpfändeten unsere Seelen! Denn die Untertanen des Papstes, die wir in einsame Klöster verbannt hatten, lockten uns nun mit Versprechungen und trügerischen Worten. Sie versprachen uns Heere von Kreuzrittern und Legionen gläubiger Ritter, die uns zur Hilfe eilen würden, wenn wir nur bereit wären, unserem wahren Glauben abzuschwören und uns der Allmacht des Heiligen Vaters in Rom zu unterwerfen! Was, so frage ich euch, hätten wir denn damals tun sollen? Wir waren dem Untergang geweiht. Tod und Knechtschaft unter den Arabern oder reuige Unterwürfigkeit, das war unsere Wahl. Die Entscheidung traf unsere Kaiserinmutter, die ruhmreiche Kaiserin Eleni, aus Liebe zu ihrem Volk: Sie willigte ein, sich Roms Forderungen zu beugen. Daraufhin wurden in aller Hast weltliche und sakrale Schätze zusammengetragen und an das Ufer des Tanasees in Sicherheit gebracht. Darunter der Garant für Gottes Gegenwart inmitten des Volkes, Symbol des Bundes Gottes mit uns.«
Jahzara stockte beinahe der Atem. Was der Mönch soeben fast beiläufig und sehr kryptisch formuliert erzählt hatte, war der Beweis! Ja, er sprach von der Bundeslade – dem Garanten für Gottes Gegenwart inmitten des Volkes. Ihr Herz pochte.
Sie wollte Fragen stellen, sah dem Abba aber an, dass er nicht gewillt war, über diese Dinge weiterzusprechen. Der Abt schien sehr nervös zu sein. Es war nicht zu übersehen, dass er nach Worten suchte, um seine Erzählung zu beenden. Sie hatte sich nicht getäuscht.
Der altehrwürdige Abba Giyorgis
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