Die verschollene Karawane
Der Araber! Der Verfolger! Der Mörder von Charles Bahri! Das waren ihre ersten Gedanken gewesen. Dann waren Schreie von anderen Mietern durch das Haus gehallt. Jemand hatte »Policia! Policia!« geschrien. Tatsächlich war wenig später die Polizei gekommen. Angeblich hatte Federico einen Einbrecher überrascht und auf ihn geschossen. Blutspuren im Treppenhaus und auf der Straße ließen den Schluss zu, dass er getroffen hatte.
Die Polizei neigte zu der These, dass es sich um einen Dieb gehandelt hatte. Jahzara jedoch glaubte kein Wort davon, denn da gab es etwas, was die Polizisten im Treppenhaus gefunden hatten: eine Drahtschlinge mit zwei hölzernen Griffen. Der Eindringling hatte sie im Treppenhaus verloren. Sie hatte gehört, wie einer der Polizisten zu seinem Kollegen gemeint hatte, wie ungewöhnlich es sei, dass ein Einbrecher eine Scarpia dabeihabe, eine jener Drahtschlingen, mit denen professionelle Killer ihre Opfer erdrosseln. So wie bei den Mafiosi in Italien. Das hatte Jahzara in Panik versetzt, zumal der einbeinige Hausmeister den Polizisten auch noch gesagt hatte, dass er das Gesicht des Hünen gesehen habe. Und dass er deshalb glaube, der Hüne sei ein Araber gewesen. Seitdem fühlte sich Jahzara wie gelähmt vor Angst. Sie traute sich nicht, den Polizisten mitzuteilen, was sie vermutete. Dieser Mann hatte sie vielleicht töten wollen.
Das erschütterte sie. Erst dieser Araber in Venedig. Und nun ein weiterer hier, in dem Haus, in dem sie wohnte. Beide lebten noch. Was wollten diese Männer von ihr? Hatten sie etwas mit Charles zu tun? Seit Venedig wusste sie allerdings, wo sie wahrscheinlich Antworten finden würde: in Santa Maria de Belém. Dort hinzukommen, stellte sie jedoch vor große Probleme. Es war eine Art Klaustrophobie, die sie daran hinderte, die U-Bahn zu betreten. Panikattacken schüttelten sie. Eine Stunde brauchte Jahzara schließlich mit dem Fahrrad, das sie sich von einer Freundin geliehen hatte. Am Rio Tejo entlang, unterhalb des Bairro Alto, war sie Richtung Belém gestrampelt. Erschöpft von der langen Fahrt, stand sie schließlich vor dem Eingang des Museu de Marinha, am Ende des Westflügels des Mosteiro dos Jerónimos. Das prachtvolle Kloster, das Manuel I. Anfang des 16. Jahrhunderts hatte bauen lassen, um den in Spanien angesiedelten Hieronymus-Orden nach Portugal zu holen, entfaltete im sanften Morgenlicht seine wahre Pracht. Das rote Dach schimmerte unnatürlich intensiv. Der Sakralbau aus hellem Kalkstein, der auf wundersame Weise Stilelemente aus der Renaissance mit gotischen und orientalischen Einflüssen eint, war einer ihrer Lieblingsplätze in Lissabon. Oft hatte sie schon in dem orientalisch anmutenden Kreuzgang vor dem Springbrunnen gesessen und die einzigartige Atmosphäre dieses kolossalen und doch so verspielt wirkenden Bauwerks auf sich wirken lassen. Im Marinemuseum war sie allerdings noch nie gewesen. Der Museumsdirektor aus Venedig hatte ihr jedoch dringend geraten, es zu besuchen.
Die prächtige Eingangshalle mit dem fantastischen Kreuzgewölbe und den farbenprächtigen Bleiglasfenstern wurde geprägt von einer überdimensionalen, aus weißem Marmor modellierten Statue. Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Da war er! Der Mann, der ganz offensichtlich in diesem Puzzle von Charles eine so große Rolle spielte: Infante Dom Henrique! Heinrich der Seefahrer, sie ahnte es, war der Schlüssel zum Verständnis all jener Dinge, die in den Büchern und Dokumenten geschrieben standen. Das alte portugiesische Buch las sich zwar eher wie ein Roman, aber was, wenn der Museumsdirektor aus Venedig die Wahrheit gesagt hatte? Dann würde sie hier in der Biblioteca Central da Marinha Dokumente finden, die all das bestätigen. Dann wäre die Sensation perfekt.
Die riesige Weltkarte an der Stirnwand der Eingangshalle beeindruckte sie enorm. Neben den wichtigsten Seerouten portugiesischer Seefahrer war auch die Grenzlinie westlich der Kapverdischen Inseln eingezeichnet, die nach der Einigung zwischen der portugiesischen und der spanischen Krone im Vertrag von Tordesilhas die Welt in zwei zur Eroberung freigegebene Gebiete unterteilt hatte: jene westlich der von Nord nach Süd verlaufenden Linie für die Spanier, die im Süden und Osten für Portugal. Damit hatte sich Portugal Afrika einverleibt. Der Papst hatte diese Aufteilung der Welt abgesegnet.
Jahzara atmete tief durch. Diese Karte war ein Synonym für die grenzenlose Arroganz und Beweis für das repressive,
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