Die verschollene Karawane
der nicht Demut, Gottesfurcht und Menschenliebe, sondern Böses in sich trug, gewesen. Die eng zusammenstehenden Augen und die tiefen, vertikalen Gesichtsfalten ließen erahnen, dass die Seele dieses Mannes zerrissen war, er schon viel Leidvolles erlebt hatte. Oberhalb der Nasenwurzel hatte er ein eigentümliches Mal, das wie ein tätowiertes Kreuz aussah, vielleicht ein koptisches Kreuz. Der Blick dieses Mannes mit dem arabischen Einschlag hatte so viel Aggression und Furchterregendes in sich geborgen, dass Pater Benedikt sich wortlos abgewandt hatte und ins Hotel zurückgegangen war. Er konnte diese merkwürdige Begegnung nicht einordnen, verdrängte aber den Verdacht, dass dieser Mann kein Glaubensbruder gewesen sein könnte.
Irritiert von diesem Vorfall, hatte er beschlossen, sich mit seinen Unterlagen zu beschäftigen. Für den heutigen Tag stand nichts mehr an. An der Rezeption hatte man ihm für den nächsten Tag ein Boot und einen Dolmetscher besorgt, mit dem er zunächst die in Ufernähe liegenden Klosterinseln besuchen würde. Allerdings bezweifelte er, dass er in diesen Klöstern Antworten auf seine Fragen bekommen würde. Viel wahrscheinlicher war es, dass er in Aksum oder in Lalibela fündig werden würde.
Pater Benedikt setzte sich auf den Balkon. Die warme Nachmittagssonne machte ihn schläfrig. Der Blick über den See, der Schrei eines Seeadlers und die betörenden Düfte exotischer Bäume und prächtiger Blumen ließen ihn melancholisch werden. Was für ein geheimnisvolles Land! Eines dieser Geheimnisse wollte er ergründen. Er stand unter Zeit- und Erfolgsdruck. Seine Gedanken schweiften zurück nach Jerusalem, wo die ganze Angelegenheit vor mehr als drei Jahren begonnen hatte. Der altehrwürdige Pater Lindemann, Abt der Abtei Dormitio Beatae Mariae Virginis und gleichsam treibende Kraft der benediktinischen Stiftung Hagia Maria Sion, hatte ihn damals völlig entgeistert angeschaut, als er ihm von seiner Idee erzählt hatte, in den Saharastaaten nach Spuren frühchristlicher Gemeinden und nach Spuren von Kreuzrittern zu suchen. Ja, Bruder Lindemann, dessen kahler Schädel ihn stets wie einen Asketen aussehen ließ, war anfänglich sehr skeptisch gewesen. »Die These, dass es in Nordostafrika schon im dritten und vierten Jahrhundert nach Christus frühchristliche Gemeinden gegeben hat, Bruder Benedikt, ist nichts Neues. Dass es sogar im fernen westafrikanischen Mauretanien solche Christengemeinden gegeben haben soll, halte ich allerdings, bei allem Respekt vor Ihren exzellenten Kenntnissen, für sehr wagemutig.« Das hatte der Abt damals gesagt und dann nachdenklich hinzugefügt: »Wenn sich allerdings Beweise erbringen lassen könnten, dass Tempelritter schon im zwölften Jahrhundert von Jerusalem aus nach Aksum reisten, um mit dortigen Christenkönigen Kontakt aufzunehmen, dann dürfen wir gewiss sein, dass dies weltweit für Aufsehen sorgen wird. Dann hat sich der Aufwand Ihrer Recherche gelohnt! Sie wissen ja, dass es seit jeher Gerüchte gibt, dass Templer die Bundeslade nach Rom gebracht haben sollen. Und es heißt auch, dass sich die Bundeslade in Äthiopien befand.«
Das war die erste Reaktion seines Abtes gewesen. Und daraus war schließlich die Aufgabe für ihn entstanden, die ihn hierhergeführt hatte.
Ohne Charles Bahri wäre er nie auf diese Idee gekommen! Den ehemaligen Franziskanermönch hatte er in Kairo kennen gelernt. Von ihm hatte er den Hinweis auf das Sion -Dossier erhalten. Mit diesen sensationellen Unterlagen hatte er alle Mäzenen und Gönner überzeugt, dass dieses Forschungsprojekt den eigentlichen Stiftungszielen entsprach: nämlich Juden, Christen und Muslime in Gebeten und Gesprächen, in Konferenzen und Seminaren bei vollem Respekt aller Unterschiedlichkeiten zusammenzuführen. Kaum ein Ort auf der Welt war dafür besser geeignet, als die Benediktinerabtei Dormitio im Zentrum von Jerusalem. In Fußnähe zur jüdischen Klagemauer, zur christlichen Grabes- und Auferstehungskirche, zur islamischen Moschee El Aksa und zum Felsendom lag Dormitio zwischen symbolhaften und historischen Gebets- und Wallfahrtsstätten der drei monotheistischen Weltreligionen. Wenn alles gut ginge, würden seine Nachforschungen in Äthiopien maßgeblich dazu beitragen, das Verständnis zwischen den Religionen zu fördern. Wenn wirklich zutraf, was die Christen Äthiopiens glaubten, dann hatte sich ein für alle drei Religionen bedeutsames Relikt und eines der größten Mysterien der Christen
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