Die verschollene Karawane
Funkgerät hervor: »Bahir elf-eins an Zentrale. Zielperson hat das Licht ausgeschaltet. Sieht so aus, als habe er sich hingelegt. Keine ungewöhnlichen Vorkommnisse. Ende.«
11.
D er Anblick der Wüste ließ Peters Herz schneller schlagen. Während Jahzara schon kurz nach dem Start eingeschlummert war, hatte er stundenlang fasziniert aus dem Fenster auf die unter ihnen dahinfliegenden Landschaften geschaut. Die wie Schwalbennester in die karstigen Hänge gebauten weißen Dörfer entlang der Küsten Griechenlands sahen fast kitschig-schön aus, so deutlich und von sanftem Sonnenlicht koloriert waren sie an diesem Tag zu sehen. Soeben waren hinter der libyschen Küstenstadt Bengasi die ersten Dünen der Sahara aufgetaucht. Die Wüste! Kein Wölkchen trübte heute den Blick auf diese bizarre Welt aus Sand und Gestein. Die sich zwischen Horizont und Unendlichkeit im Nichts auftürmenden Dünen und die wie Panzer urzeitlicher Riesenechsen im Zickzack durch das Sandmeer verlaufenden Gebirgsketten sahen aus dieser Höhe winzig aus. Dort unten war eine Welt, die er kannte, liebte – aber auch schon zu hassen gelernt hatte. Was aus dem Flugzeug in den Pastellfarben einer afrikanischen Dämmerung so friedlich und anheimelnd aussah, war in Wirklichkeit ein tödlicher Glutofen. Dort unten lagen tausende Quadratkilometer Einöde, zerfurcht von gigantischen Trockenflüssen, überthront von schroffen Bergmassiven – unendlich viel Nichts. Und genau das liebte er! Was sich als menschenfeindliche Landschaft darstellte, war für ihn persönlich das größte Refugium grenzenloser Freiheit auf diesem Planeten. In der Wüste galt seit Jahrtausenden nur ein einziges Gesetz: Wer stark ist, überlebt, wer Schwäche zeigt, stirbt.
Vor seinen Augen verschmolzen Gegenwart und Vergangenheit. Was in jüngster Zeit geschehen war, hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Seit er entschieden hatte, mit Jahzara nach Äthiopien zu fliegen, waren nur wenige Tage vergangen. Sein Chef hatte seine Kündigung mit einer einzigen Zeile zur Kenntnis genommen. Was nun auf ihn zukommen würde, war ein noch größeres Abenteuer als alles, was er jemals in den Wüsten Afrikas erlebt hatte.
In seinen Erinnerungen erwachten Fragmente von Bildern und Gerüchen zu neuem Leben. Wäre sein Vater nicht gewesen, dann wäre diese glühende Symbiose aus Tod und Schönheit ihm wahrscheinlich für immer verschlossen geblieben. »Wenn du dein Abitur gemacht hast, fahren wir zusammen in die Sahara«, hatte er vor mehr als zwanzig Jahren gesagt. Damals arbeitete sein Vater bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Eschborn. Als Experte für Wasserbautechnik war er für die Betreuung von Entwicklungshilfeprojekten in Uganda, Zaire, Niger und Mali zuständig gewesen. Achtzehn Jahre war Peter alt gewesen, als sie dann tatsächlich nach mehrmonatiger Vorbereitung in Vaters Landrover nach Marokko aufgebrochen waren. Bei dieser Fahrt von Deutschland ins südmarokkanische Tafraoute, wo die eigentliche Wüstentour begann, wurde er krank. Unheilbar krank. Bereits nach vier Tagen zeigte er Symptome, die sein Vater gut kannte. »Worunter du leidest, mein Junge«, hatte sein Vater an jenem Abend im Windschatten einer prächtigen Wanderdüne nahe der mauretanischen Grenze gesagt, »was dich so melancholisch und doch so überglücklich macht, Peter, ist die schlimmste Krankheit, die du dir als Weißer in Afrika einhandeln kannst. Die Kolonialbriten nannten das Bacillus Africanus! Diese Krankheit ist unheilbar. Jene zwiespältigen Gefühle, die Aversion gegen Hitze, Staub und Elend einerseits und das Verlangen andererseits, mehr von diesen grandiosen Landschaften, von der paradiesischen Tierwelt und von diesen so unglaublich herzlichen Menschen sehen und spüren zu wollen, diese Sucht hat mich schon in jungen Jahren erwischt. Und dieser Bazillus schlummert noch immer in mir. Deine Mutter hingegen hat Afrika zu hassen begonnen, als unser erstes Kind in einem mickrigen Spital in der Kalahari im Alter von zwei Jahren an Malaria starb. Glaube mir, Peter, die Liebe zu Afrika kann tödlich sein!«
So hatte es ihm sein Vater damals an diesem unvergesslichen Abend in der Wüste erklärt. Noch nie hatten sein Vater und er sich so nahe, so vertraut miteinander gefühlt. Sie lagen damals auf dem Boden neben dem Lagerfeuer, schwiegen, tranken Bier, schwiegen, stierten in einen Sternenhimmel, den er in solcher Klarheit und so scheinbar greifbar nahe noch nie zuvor gesehen hatte.
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