Die verschollene Karawane
hindurch hatten ihn laut surrende Mücken malträtiert. Moskitonetze gab es im Zimmer nicht. Entsprechend war die Nacht ein Martyrium gewesen. Im Halbschlaf hatte er versucht, die Plagegeister zu vertreiben. Vergeblich. Dann war er auf die Idee gekommen, sein Bettlaken wie ein Zelt über sich zu spannen. Erst im Morgengrauen war er in einen an Ohmacht grenzenden Tiefschlaf gefallen.
Die Detonation zerriss ihm fast das Trommelfell. Ein harter Gegenstand traf seinen Kopf. Er schrie auf. Schlaftrunken, schmerzerfüllt, orientierungslos und von grenzenloser Angst gepeinigt, sprang er aus dem Bett. Er kannte diese Geräusche, diesen Gestank von Tränengas und Qualm aus Jerusalem und Gaza. Das waren Bomben, Granaten! Damals, in den Hochzeiten der Antifada, hatte dieser Gestank wochenlang über Palästina gelegen. Sein Kopf dröhnte. Blut rann über sein Gesicht. Er hatte Todesangst. Dichter Nebel im Zimmer nahm ihm jegliche Sicht. Dennoch glaubte er einen Lichtschein am Fenster zu sehen. Raus! Auf den Balkon! Plötzlich war es Furcht erregend still. Die Detonation hatte ihn taub werden lassen. Aber da waren Schatten – Männer und Waffen. Er hastete vorwärts zur rettenden Balkontür. Die Schatten waren dicht hinter ihm. Er prallte mit seinem Schienbein gegen ein Möbelstück, strauchelte, ruderte mit den Armen in der Luft, suchte nach Halt. Ein stechender Schmerz in seiner linken Schulter wirbelte ihn um die eigene Achse. Er wusste zwar nicht, wie sich ein Geschoss anfühlt, wenn es durch Fleisch und Blut dringt, aber er ahnte, dass ihn eine Kugel getroffen hatte. Glassplitter des Fensters prasselten ihm ins Gesicht. Er schrie. Eine unsichtbare, mächtige Hand schleuderte ihn mehrere Meter weit gegen eine Zimmerwand. Er sackte in sich zusammen, hörte und fühlte nichts mehr. Die Schatten bekamen plötzlich Konturen von Menschen mit hasserfüllten schwarzen Fratzen. Dann waren sie über, neben und vor ihm. Eine schwarze Faust zischte aus den Nebelschwaden hervor gegen seinen Kopf. Dann glaubte er tot zu sein.
Peter konnte sich während der gesamten Fahrt vom Flughafen nach Bahir Dar des Gefühls nicht erwehren, dass es zwischen Jahzara und ihrem Vater Misstöne gab. Seyoum Jan-Zela hatte sie schon am Gepäckband empfangen. Peter kannte das aus anderen afrikanischen Ländern. Menschen mit Privilegien schöpften in Afrika ihre Position aus, wo immer es möglich war. Wer Beziehungen hatte, wurde an den Zoll- wie auch an der Einwanderungsbehörde vorbei nach draußen geschleust. Ohne Kontrollen. Die Beamten am Flughafen schienen zu wissen, dass Jahzaras Vater früher Botschafter Äthiopiens gewesen war. Sie wurden überall durchgewinkt. Bereits nach zehn Minuten saßen sie in dem unmittelbar vor dem Eingang stehenden Geländewagen. Das blaue Regierungskennzeichen mit den Buchstaben ETH ließen ihn ahnen, dass Jahzaras Vater auch in Bahir Dar einen Sonderstatus genoss.
Seyoum war auf den ersten Blick ein sehr netter Mann, mit exzellenten Umgangsformen und einem jovialen Lächeln. Seine kurzen Kraushaare waren hellgrau und verliehen ihm – in Einklang mit seiner eleganten, schlanken Erscheinung und dem hellen Anzug – die Aura eines afrikanischen Gentlemans. Er lachte viel, gab sich betont herzlich und hatte ihn wie einen alten Bekannten begrüßt.
Nur wenige Fahrminuten später wusste Peter jedoch, dass dieses Lachen das eines weltgewandten, erfahrenen Diplomaten war, dessen wahre Gedanken sich hinter einer Maske verbargen. Dieser Mann, vermutete Peter, mochte ihn nicht. Mit Jahzara hatten der etwa 55-jährige Seyoum nur wenige Worte gewechselt. Ihre Begrüßung war auffallend kurz und emotionslos gewesen. Entsprechend angespannt war die Stimmung, als sie die Auffahrt zum Tana- Hotel entlangfuhren.
Plötzlich wandte sich Seyoum um. Seine Augen fixierten ein Fahrzeug, das auf dem Parkplatz stand. Es war ein Geländewagen mit getönten Scheiben. Er wirkte sehr ernst und schien angestrengt nachzudenken.
Peter wunderte sich, dass auf dem Parkplatz kein weiteres Fahrzeug stand. Nirgendwo waren Touristen zu sehen. Seltsam! Das Hotel wirkte eigentümlich verlassen. Nur einige Gärtner lungerten herum. Sie gossen im Zeitlupentempo Blumenbeete. Jahzaras Vater parkte den Wagen unter einem Baum. Peter stieg aus und ging zum Heck des Fahrzeugs. Jahzara blieb neben der Beifahrertür stehen.
Die Explosion war ohrenbetäubend und kam aus dem Gebäudetrakt links neben der Rezeption. Holzsplitter und Metallteile der Brüstung
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