Die verschollene Symphonie
nie sprechen gehört.«
»Das ist richtig.«
Juda nickte. »Es war ein Fehler, die beiden in einem Raum zusammenzubringen. Manche Dinge muss man eben auf die harte Tour lernen. Und wie ich so gern betone«, fügte er hinzu, während Marisa die Tür zu Herrn Schwans Zimmer öffnete, »alles, was man wissen muss, wird man erfahren – mit der Zeit.«
Der Raum lag im Dunkeln. Das war jedoch nicht auf ein Problem mit der Elektrik zurückzuführen – Herr Schwan zog die Dunkelheit vor. In seinem Zimmer war nie ein elektrischer Anschluss installiert worden.
Die Gesellschaft trat ein, doch der verschlossene Mann nahm keine Notiz von ihnen. Nach einigen Minuten bedeutete Doktor Syntax den anderen sich zurückzuziehen. Ohne auf ihn zu achten, kniete Marisa vor dem Mann nieder und strich ihm sanft über den Arm.
»Herr Schwan? Herr Schwan?«
Der Geisteskranke, der auf dem ramponierten, schäbigen Bett kauerte, antwortete nicht. Schließlich warf er zögernd einen Blick in ihre Richtung. Marisa stellte die Laterne, die Maddox getragen hatte, in die Mitte des Zimmers. Lichtstrahlen erhellten das Gesicht des alten Mannes.
Er zitterte ein wenig, als das Licht auf ihn fiel, und zuckte zurück, als hätte ihn tatsächlich etwas berührt. Wie aus einem Traum erwacht, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf Doktor Kapelson und fing an zu sprechen.
»Der Ring, der Tarnhelm und der Schatz der Nibelungen befinden sich jetzt in den Händen der Riesen«, murmelte Herr Schwan. »Sie sind in einer großen Höhle versteckt, inmitten eines dichten Waldes. Der Anführer der Riesen hat sich mit Hilfe des Tarnhelms in einen Drachen verwandelt und hält darüber Wache. Um die Herrschaft über die Welt zu behalten, muss Wotan den Ring wiedererlangen. Weder er, dem der Pakt die Hände bindet, noch einer der anderen Götter kann jedoch selbst etwas ausrichten. Deshalb muss er einen Helden unter den Menschen finden, der den Drachen besiegt, damit er den Schatz wieder in Besitz nehmen kann. Dieser Held ist der Sonnenkönig, Siegfried.« Er riss den Kopf hoch und blickte Marisa in die Augen. »Bist du die, die ihn verraten wird? Oder bist du seine Königin? Du kannst nicht beides sein, Kriemhild.«
Marisa schnappte erschrocken nach Luft und warf Galen einen Blick zu. Maddox’ Augen verengten sich, und Juda und Doktor Syntax tauschten einen besorgten Blick.
»Ich weiß es nicht, Herr Schwan«, sagte Marisa.
»Hast du Angst?«
Sie schwieg einen Augenblick. »Vielleicht ein wenig.«
Er seufzte. »Nur wer das Fürchten nicht erfuhr, schmiedet Nothung neu. Nothung… Nothung… Nothung…«
»Nothung?«, fragte Marisa. »Ich verstehe nicht.«
»So heißt Siegfrieds Schwert«, erklärte Maddox.
»Das sind die Worte Mimes«, sagte Galen. »Der Zwerg war selbst halb verrückt.«
»Vor Angst«, fügte Maddox hinzu.
»Nothung«, wiederholte der alte König. »Nur Nothung kann die Fäden der Nornen zerschlagen. Die Nornen, die Schicksalsschwestern, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind. Sie hängen an einem goldenen Seil, das am Walkürenfelsen im Tal der Sieben Berge befestigt ist. Wenn das Seil reißt, ist ihre Aufgabe erfüllt und sie werden von der Mutter Erde verschluckt. Hält das Seil, wird die Welt in Feuer und Eis vergehen und die Zeit selbst wird stehen bleiben.«
»Dieses mystische Geschwafel übersteigt meine Geduld«, sagte Juda. »Von ihm werden wir nichts erfahren.«
»Einen Augenblick noch«, sagte Maddox. »Können Sie ihn dazu bringen, dass er weiterspricht, Doktor Kapelson? Was er uns sagen will, könnte sehr wichtig sein.«
»Ich werde es versuchen.«
Die Ärztin rückte die Lampe von dem alten Mann weg, so dass sein Gesicht erneut im Schatten lag. »Herr Schwan? Ich bin es, Doktor Kapelson. Die Geschichten, die Sie mir über Bayreuth und den Ring erzählt haben, haben mir sehr gefallen. Können Sie mir noch mehr darüber sagen? Herr Schwan?«
Der Mann antwortete nicht. Dann sank ihm der Kopf auf die Brust und einen Augenblick lang fürchtete sie, er sei gestorben. Wie ein Windhauch drangen schließlich Worte zu ihr herüber.
»Finde Nothung und du wirst den Sonnenkönig finden.
Finde den Sonnenkönig und ein neues Zeitalter wird für uns anbrechen.«
»Der Sonnenkönig ist tot«, sagte Juda.
»Ruhe«, herrschte Galen ihn an.
»Ragnarök ist nicht das Ende«, sagte Herr Schwan, und seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Wollen Sie, so haben wir eine Kunst.«
»Wir sollten gehen«, sagte
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