Die Verschollenen
war, sich durch die Tests beim Sender zu schmuggeln - die Überprüfung seines Backgrounds, den Fitnesstest, das psychologische Gutachten -, aber jetzt war er außer sich vor Begeisterung. Das war es alles wert gewesen.
Er war wie neugeboren. Voller Energie. Der alte Matthew hatte immer nur Pläne geschmiedet, sich beschwert, Propagandamaterial und Protestaufrufe in Blogs und Message Boards veröffentlicht, aber nie Blut für die Sache vergossen. Dieser alte Matthew war verschwunden. Das alles hatte sich geändert. Es war Blut vergossen worden - und zwar reichlich. Er konnte nicht nur für die Sache sterben, er konnte auch für sie töten. Jetzt war er ein anderer geworden. Eine geladene Waffe, bereit zum Schuss. Ein Kessel, der kurz vor dem Überkochen stand. Mit jedem Tropfen wusch der Regen ein Stück des alten Matthew fort, trug Schicht um Schicht ab, befreite ihn von seiner Fettschicht und drang zum Kern seines Wesens vor. Jetzt war er Matthew 2.0, und er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt.
Als ein weiterer Blitz den Himmel spaltete, sah er sich um. Die Leichen von Mark und Jesse lagen immer noch dort, wo er sie versteckt hatte, direkt neben dem Pfad. Matthew grinste.
Das war ein guter Anfang.
Zwei weniger. Noch viel zu tun.
Die ursprüngliche Idee - sich bei einer landesweiten Realityshow einzuschmuggeln und diese dann dazu zu nutzen, die Sache weiter zu verbreiten und die Wahrheit zu verkünden - stammte von Matthew. Er hatte damit gerechnet, dass sein Gruppenführer ihn auslachen würde, doch stattdessen hatte er angeboten, Matthew dabei zu helfen, die Idee in der Kommandokette weiter nach oben zu hieven. Als sie damit zu Barnes gegangen waren, dem Anführer der Söhne der Verfassung, war Matthew davon ausgegangen, dass dieser die Aufgabe einem anderen übertragen würde, einem Mitglied der Bruderschaft, das für eine solche Mission besser geeignet war - oder dass Barnes die Idee komplett verwerfen würde. Immerhin war Matthew ein Niemand - ein kleiner Fußsoldat der Revolution, einer von Dutzenden, die in verschiedenen Zellen verteilt waren und deren Aufgabe darin bestand, über das Internet die verschlafenen, unbeteiligten Massen mit ihrer Unzufriedenheit bezüglich der momentanen Lage Amerikas zu konfrontieren. Dadurch sollten neue Rekruten oder zumindest neue Sympathisanten für die Sache gewonnen werden. Und auch wenn er darin ziemlich gut war, markierte es bereits die Grenze seiner Fähigkeiten. Er war kein Sprengstoffexperte und konnte nicht besonders gut mit Waffen umgehen. Seine Nachbarn hielten ihn für einen gesichtslosen Niemand. Wenn er nicht gerade dabei war, online seine Spuren zu verwischen, gab er sich
alle Mühe, dem zu entsprechen, was die Gesellschaft als normal ansah. Die Organisation betonte immer wieder, wie wichtig es war, dass die Mitglieder keine Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Matthew ging brav zur Arbeit, bezahlte pünktlich seine Steuern und Gebühren, hielt sich an das Tempolimit und blieb möglichst unauffällig. Er war ein Niemand, nichts als eine weitere Drohne, die für den Big Boss schuftete - oder vorgab, für ihn zu schuften. Er machte sich keine Illusionen. Er war kein Held. Er würde kein berüchtigter Freiheitskämpfer werden. Er war nur ein Mittel zum Zweck. Ein Rädchen in der riesigen Maschine. Seine Mission würde keineswegs die Welt retten. Sie würde nur dabei helfen, die Sache voranzutreiben. Die Rettung der Welt lag in den Händen größerer Männer.
Deshalb war er ziemlich überrascht, als Barnes die Idee nicht nur unterstützte, sondern darüber hinaus entschied, dass Matthew diesen Auftrag selbst ausführen sollte.
»Mach uns stolz«, hatte Barnes gesagt und seine Schulter gedrückt. »Tue das Richtige für die Bewegung und dein Land. Damit können wir ihnen einen mächtigen Schlag versetzen. Das ist ein wahrer Wendepunkt. Versau es nicht.«
Matthew hatte ihm versichert, dass er das garantiert nicht tun würde, und dabei versucht, Selbstsicherheit und Stärke auszustrahlen. Innerlich hatte er sich ganz und gar nicht selbstbewusst gefühlt. Er war
völlig verängstigt gewesen, voller Sorge, dass er versagen könnte, oder noch schlimmer: den Schwanz einkneifen, wenn die Zeit gekommen war. Aber diese Ängste waren in dem Moment verschwunden, als er Jesse den Bambusspeer in die Kehle gerammt hatte. In dieser Sekunde waren seine Zweifel von einem Gefühl der selbstgerechten Erregung verdrängt worden. Matthew hatte das Gefühl staunend immer wieder
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