Die Verschworenen
ich schrecke hoch, als jemand meinen Kopf berührt, meine Wange, meine Schulter.
Sandor hockt vor mir, und während er noch nach Worten sucht, weiß ich, was er sagen wird. »Es ist vorbei.«
Ich brauche ein paar Sekunden, um völlig wach zu werden. »Das tut mir furchtbar leid«, murmle ich. Ein Satz, der völlig abgedroschen klingt, doch zum Glück nimmt Sandor daran keinerlei Anstoß. Er wirkt abwesend. Natürlich. Mein schlaftrunkenes Ich schafft es nur langsam, sich das ganze Ausmaß der Folgen zu vergegenwärtigen. Vilem ist tot. Sandor ist sein Nachfolger. Mit dieser Stunde ist er für den Clan Schwarzdorn verantwortlich.
Was für eine Aufgabe und er scheint ihr Gewicht schon jetzt auf seinen Schultern zu fühlen. So, wie er vor mir kauert, wirkt er jünger als je zuvor. Ich rutsche von meinem Stuhl und knie mich neben ihn. Nehme ihn in die Arme.
»Er war doch immer so stark«, flüstert Sandor. Es klingt verwundert. »Vilem hat mehr Verletzungen überstanden als jeder andere. Ich war mir so sicher, er würde alt werden.« Er bedeckt sein Gesicht mit einer Hand, schüttelt den Kopf. »Für mich war er … Er war wie … Ich hatte ja keine Familie.«
Ich sage nichts, nicke nur und streiche über sein Haar, für diesen kurzen Moment, in dem Sandor seiner Trauer nachgibt. Dann strafft er die Schultern und ich lasse ihn los. Fiores Worte fallen mir ein. Bei uns ist der Tod kein so seltener Gast, als dass wir ihm erlauben dürften, uns tagelang die Kraft und den Mut zu rauben .
Sandor hat seinen Blick auf die Tür gerichtet, hinter der Vilem liegt. »Es wird so schwer werden«, wispert er, so leise, dass ich es kaum hören kann. Aber ich verstehe genau, was er meint.
»Ja«, erwidere ich. »Deshalb hat man dich zum Nachfolger bestimmt. Weil du alles hast, was man braucht, um diese Aufgabe zu bewältigen.«
Ich lege meine ganze Zuversicht in die zwei Sätze und bemühe mich, sie selbst zu glauben. Sandor wird kein leichtes Spiel haben; er ist noch so jung. Die Gleichaltrigen werden ihm den Rang nicht gönnen und die Älteren ihm die Aufgabe nicht zutrauen.
Er nickt, mehr dankbar als überzeugt.
Wir könnten für diese Nacht einen Winkel in der Bibliothek finden, ein Bett aus alten Büchern. Wir könnten zusammen sein, ich würde ihn trösten –
»Sandor?« Quirins Ruf schneidet durch meine Gedanken, ich schaue auf und sehe ihn auf uns zukommen. »Ich muss mit dir sprechen.« Noch nie hat er so alt gewirkt. Am liebsten würde ich auch ihn in die Arme nehmen und trösten.
»Worüber?« Sandor macht keine Anstalten, sich zu erheben. »Lass uns bis morgen warten, bitte. Ich bin –«
»Du bist der Fürst.« Bedauern und Härte liegen in Quirins Stimme, die Härte überwiegt. »Und zwar bereits jetzt, nicht erst morgen. Es gibt ein paar Angelegenheiten, mit denen du dich vertraut machen musst. Über die du Bescheid wissen musst, bevor du beginnst, Entscheidungen zu treffen. Du hast einen Eid geleistet und er wird dir noch schwerere Dinge abverlangen, als deine Müdigkeit zu bezwingen.«
Mit einem Seufzen richtet Sandor sich auf. »Vilem hat mir schon so viel erklärt. Er hat mich auf diesen Tag vorbereitet und –«
»Das hat er«, unterbricht Quirin ihn erneut. »Aber du weißt noch nicht alles. Ich bin der Fürst unter der Stadt und du der Fürst unter der Sonne. Es gibt Dinge, die nur diese beiden miteinander teilen.«
»In Ordnung.« Sandor drückt mir einen Kuss aufs Haar. »Wartest du hier?«
»Nein«, sagt Quirin, bevor ich antworten kann. »Sie soll zurück zu den anderen gehen. Tu das bitte, Ria. Erzähle ihnen, was passiert ist. Mache Aureljo und Dantorian klar, dass sich ihre Abreise deshalb nicht verzögern darf, im Gegenteil. Je früher sie aufbrechen, desto besser.« Als würde ihn die Kraft verlassen, lehnt Quirin sich gegen die Wand, für einen Moment schließt er die Augen. »Es wird unruhig werden im Clan, das ist immer so, wenn der Fürst stirbt und der Than nachfolgt. Dann ist dieses Territorium kein guter Platz für Fremde.«
Am besten wäre es, du und Tycho würdet es euch anders überlegen und euch Aureljo anschließen , schwingt darin unausgesprochen mit. Als könnte Quirin unsere Sicherheit plötzlich nicht mehr garantieren, was er in Wahrheit nie gekonnt hat.
Sie gehen nicht in die Kammer, in der Vilem liegt, sondern in den daran angrenzenden Raum, dessen massive Holztür sich mit einem dumpfen Krachen hinter ihnen schließt.
Bisher habe ich mich noch nicht vom Boden
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