Die Verschworenen
Vorsichtig nehme ich seinen Kopf zwischen meine Hände, ich will, dass er mich ansieht. »Ich würde euch nie verraten. Wir verdanken euch doch unser Leben.«
Sind das Tränen in Sandors Augen? Glaubt er mir? Warum umarmt er mich dann nicht, sondern dreht sich weg?
»Erklär es mir. Bitte.«
Er krümmt sich, als hätte er Schmerzen. »Lass mich«, presst er hervor. »Ich muss … gehen. Ich muss zu meinen Leuten.«
»Das verstehe ich. Dann morgen, in Ordnung?« Ich bettle und hasse mich dafür. »Morgen. In aller Ruhe.«
»Nein.« Nur ein Hauch, kaum hörbar. »Ich werde nicht mehr zu dir kommen und du wirst nicht nach mir suchen. Leb wohl.«
Er dreht sich um, geht, wird mit jedem Schritt schneller, läuft in die Dunkelheit.
Es ist ein Gefühl, als würde ich mich auflösen. Ich möchte ihm etwas nachrufen, nachschreien, aber ich bekomme keinen Ton aus meiner Kehle. Mein Kopf ist leer, die Gedanken finden keinen Halt. Dann spüre ich eine Berührung zwischen den Schulterblättern. Eine Hand. Reflexartig drehe ich mich um und schlage sie weg, so hart, dass meine eigene Hand schmerzt.
Quirin sieht mir ins Gesicht, sein eigenes ist grau, man könnte glauben, er sei in dieser Nacht um zehn Jahre gealtert. Doch das ist mir im Moment egal.
»Ich weiß nicht, was du ihm weisgemacht hast«, zische ich. »Aber stell es richtig. Bring es in Ordnung.«
Er versucht zu lächeln, seine Mundwinkel bleiben auf halbem Weg stecken. »Das kann ich nicht. Es gibt nichts richtigzustellen.«
»Unsinn.« Meine Zunge ist trocken wie Papier. Ich muss ruhiger werden, ich kann die Emotionen anderer nicht deuten, wenn mich meine eigenen überwältigen. »Warum willst du mir etwas vormachen? Du hast ihm Lügen über uns erzählt, damit er die Finger von mir lässt und sich auf seine neue Aufgabe konzentriert. Kein übler Schachzug, ich kenne ein oder zwei Mentoren an der Akademie, die an deiner Stelle ähnliche Maßnahmen ergriffen hätten.« Jetzt bin ich es, die ihm eine Hand auf die Schulter legt. »Verrate es mir. Was hast du zu ihm gesagt?«
Quirin lässt sich Zeit mit seiner Antwort. »Keine einzige Lüge. Darauf gebe ich dir mein Wort.« Er nimmt meine Hand von seiner Schulter; erst in seinem warmen Griff spüre ich, wie kalt sie ist. »Lügen wäre so viel barmherziger gewesen.«
19
Ich bin nicht leise genug. Aureljo, Tycho und Dantorian wachen auf, als ich zurück ins Gewölbe stolpere.
»Was ist passiert?« Aureljo wickelt sich aus seiner Decke. »Wir haben uns Sorgen gemacht. Ich wollte nach oben in die Halle kommen und nachsehen, aber die Tür zu den Treppen war versperrt.«
Ich nicke kraftlos. Das weiß ich. Quirin hat sie eben erst wieder für mich geöffnet.
Ohne Widerstand lasse ich mich von Aureljo zu meinem Schlafplatz führen, mir die Stiefel von den Füßen ziehen und mich in meine Decke einpacken. Er nimmt mir meine Stablampe aus der Hand und schaltet sie aus, weil ich es nicht von selbst tue – er versorgt mich wie ein kleines Kind.
Auch Tycho hat sich von seinem Lager hochgerappelt und kommt nun zu uns. Seiner Miene nach zu schließen, muss ich furchtbar aussehen. Egal. Alles egal.
Oder doch nicht. Die unverkennbare Sorge in ihren Gesichtern sticht Löcher in die Kruste, die sich hauchdünn über dem tobenden Schmerz in meinem Inneren gebildet hat. Da ist er wieder. Er ätzt mir die Luft aus den Lungen. Ich sacke zusammen, versuche, nicht zu schluchzen, während mir neue Tränen über die Wangen laufen.
Jetzt ist auch Dantorian neugierig genug geworden, um sich zu uns zu gesellen.
»Was ist passiert? Sag es uns.« Aureljos Arm, sein Geruch, seine Wärme. So vertraut. So falsch.
Am liebsten würde ich alle meine Sinne verschließen, mich zusammenrollen und in mir selbst verkriechen. Aber natürlich bin ich ihnen eine Erklärung schuldig. »Vilem ist tot.«
»Was?« Tycho schüttelt den Kopf, seine Augen sind groß wie die eines Kindes. »Das gibt es doch nicht. Es ist ihm besser gegangen, Bojan war sich ganz sicher.«
Ich zucke mit den Schultern, eine ausführlichere Antwort bringe ich nicht zustande.
»Wie furchtbar«, flüstert Aureljo. Er drückt mich fester und ich lasse es zu. »Warst du dabei?«
Ja. Nein. Doch, in gewisser Weise schon. Ich nicke. Identifiziere das neu in mir aufsteigende Gefühl als glühenden Neid auf Vilem. Er ist von allen Emotionen, die ihn je geplagt haben mögen, befreit, während meine mich würgen, durchbohren und unter ihrem tonnenschweren Gewicht
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