Die verschwundene Frau
und das war der üblichere Fall - sie hatten keine tausend oder fünfzehnhundert Dollar übrig. Ungefähr ein halbes Dutzend Frauen verbrachte schon den zweiten Unabhängigkeitstag hinter Gittern. Sie hatten sich an den Tagesablauf dort gewöhnt und machten sich mehr Sorgen um ihre Kinder, ihre Partner, kranken Eltern oder ob sie immer noch eine Wohnung haben würden, wenn sie aus dem Gefängnis kamen.
Im Untersuchungsgefängnis wartet man auf seine Verhandlung, ins Gefängnis hingegen kommt man, wenn man rechtskräftig verurteilt ist. Coolis wagte das Experiment, diese beiden Institutionen aus Kostengründen miteinander zu kombinieren. Wir Frauen im Untersuchungsgefängnis aßen zusammen mit den normalen Gefangenen und benutzten auch dieselben Räume für die Freizeit.
Am Sonntag nachmittag brachte ein Aufseher mich in einen dieser Freizeiträume, der zur Hälfte für Sport, zur anderen für Fernsehen und andere Unterhaltungsmöglichkeiten genutzt wurde. Die Abtrennung erfolgte einfach durch die unterschiedliche Farbe des Bodens - grünes Linoleum für den Gemeinschaftsraum, nackter Beton für den Sport. Im Unterhaltungsteil befanden sich ein an der Wand angebrachter Fernseher sowie ein langer Tisch mit Spielkarten, einem Damespiel und ein paar Puzzles. Einige Frauen schauten sich eine ziemlich alberne Show an, die in voller Lautstärke lief, während drei andere sich beim Kartenspiel gegenseitig unflätige Ausdrücke an den Kopf warfen.
Ich ging in den Sportbereich, um die schlimmsten Verspannungen in Schultern und Beinen loszuwerden. Allzu viele Geräte gab es in dem Raum nicht, aber zumindest konnte ich einen Basketballkorb und einen Ball nutzen. Ich begann, Würfe zu üben. Anfangs waren meine Schultern noch ziemlich verkrampft, aber nach einer Weile lockerte sich meine Muskulatur ein wenig, und ich fand meinen Rhythmus. Würfe zu üben, hat etwas Meditatives: dribbeln, werfen, den Ball holen, dribbeln, werfen, den Ball holen. Zum erstenmal seit Freitag nachmittag entspannte ich mich und hörte den Fernseher und die kartenspielenden Frauen kaum noch.
»Du bist ziemlich gut.« Eine der Frauen, die sich bis dahin auf den Fernseher konzentriert hatte, sah mir jetzt zu.
Ich brummte nur etwas. Ich spiele im Winter fast jeden Samstag mit einer Gruppe von Frauen, die schon seit fünfzehn Jahren zusammen ist. Einige der jüngeren waren ziemlich gut in Form, so dass ich mich anstrengen musste, mit ihnen mitzuhalten. Die meiste Zeit allerdings spielte ich nur zum Spaß Basketball.
»Ich spiel' gegen dich«, sagte die Frau. »Pro Punkt ein Dollar.«
»Ich spiele auch ohne Geld gegen dich«, keuchte ich, ohne mich aus meinem Rhythmus bringen zu lassen. »Ich habe keinen Cent.«
»Ehrlich?« sagte sie. »Haben deine Angehörigen dir denn nichts für dein Konto hier geschickt?«
»Nein. Außerdem bin ich erst seit gestern hier.«
Die Frau erhob sich und stellte sich neben mich. Die anderen feuerten uns an. »Mach schon, Angie, da hast du endlich mal 'ne echte Gegnerin.« »Ich wette, dass Angie gewinnt.« »Nein, nein, ich setze fünf Dollar auf Cream. Die Neue ist besser als Angie.« Ich sah, dass meine Zellengenossin bei den Frauen stand und sich zitternd die Arme rieb.
Angie nahm mir den Ball ab und stellte sich in Position. Ich sprang, als sie warf, und schlug den Ball vom Korb weg. Sie stieß mir den Ellbogen in die Seite, packte den Ball wieder, warf und traf. Als ich einen Rebound versuchte, griff sie mich von unten an und wollte mir den Kopf in den Bauch stoßen. Ich wich ihr aus und warf über sie hinweg. Der Ball rollte um den Korbrand und fiel dann hinein. Sie nahm ihn, versetzte mir einen heftigen Tritt gegen das Schienbein und zog unterm Korb an mir vorbei. Als sie warf, schlug ich ihr die Arme weg. Sie fluchte und erwischte mein Kinn. Ich wich ihr wieder aus und griff mir den Ball. Hier ging es nicht um Korbwürfe, sondern darum zu beweisen, wer stärker war.
Die Rufe der Zuschauerinnen wurden lauter. Aus den Augenwinkeln sah ich Wachleute auftauchen, aber ich wagte es nicht, den Blick von Angie zu wenden. Auch meine schmerzenden Schultern und meinen flauen Magen musste ich fürs erste vergessen. Werfen, Ball packen, antäuschen, springen, wieder werfen.
Allmählich begann mir der Schweiß in die Augen zu laufen. Angie war ziemlich fit und kräftig und außerdem ein paar Jahre jünger als ich, aber sie hatte nicht soviel Kondition und auch weniger Disziplin und technische Fähigkeiten, sowohl im
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