Die verschwundene Frau
Italien ein Teil von Spanien sei. Ich mischte mich nicht ein, denn ich hatte das Gefühl, dass ich besser fuhr, wenn ich mein Wissen nicht allzu deutlich zur Schau stellte.
Außerdem wollten sie wissen, wie alt ich sei. Ais ich es ihnen sagte, rief die Frau mit den bunten Zöpfen aus, nein, das könne nicht sein, denn ihre Mutter sei noch nicht so alt, und ich sehe jünger aus als sie. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie jung die Frauen rund um mich herum waren. Nur sehr wenige von ihnen waren in meinem Alter; und Miss Ruby war die Älteste von uns allen. Die meisten schienen kaum dem Teenageralter entwachsen; keine war über fünfundzwanzig. Vermutlich sehnten sie sich alle nach ihrer Mutter.
Kein Wunder, dass sie sich an Miss Ruby hängten und sich darüber stritten, wer ihr Liebling sei.
Ich konnte Miss Ruby nirgends im Speisesaal entdecken, aber das war nicht weiter erstaunlich, weil wir in drei Schichten zu je dreihundert Frauen durchgeschleust wurden. Selbst wenn sie in meiner Schicht gewesen wäre, hätte ich sie in der Menge der Leute wahrscheinlich nicht gesehen. Als ich mich nach ihr erkundigte, erklärten mir die anderen, sie esse vermutlich in ihrer Zelle: Frauen mit genug Geld und Status konnten im Gefängnisladen besonderes Essen kaufen. Doch das sei so teuer, dass die meisten von ihnen sich das nur zum Geburtstag leisteten. Allerdings gebe es immer jemanden, der bereit sei, Miss Ruby ein Essen zu spendieren.
Meine Zellengenossin aß in der Schicht nach mir, so dass ich den Raum fünfundvierzig Minuten lang rauchfrei für mich hatte. Als sie zurückkam, sah ich, dass die Erzählungen über meine Auseinandersetzung mit Angie sie beeindruckt hatten: Jetzt zollte sie mir nervös Respekt, und als ich sie bat, nach dem Löschen des Lichts nicht mehr zu rauchen, drückte sie ihre Zigarette sofort auf dem Boden aus.
Ihre Nervosität machte mir bewusst, dass ich groß und kräftig genug war, um bedrohlich zu wirken. Das erinnerte mich unangenehm an das Jahr nach dem Tod meiner Mutter, als ich mich in die Straßen der South Side gestürzt hatte. Ich war immer schon ziemlich kräftig gewesen für mein Alter und hatte - zum Teil durch das Hockeyspielen mit meinem Cousin Boom-Boom, zum Teil auch durch Erfahrung - gelernt, mich in dem rauhen Viertel zu verteidigen, in dem wir aufgewachsen waren. Aber in dem Jahr, in dem ich sechzehn wurde, fing ich auf der Straße bewusst Streit an. Es war fast, als könnte ich nach dem Tod von Gabriella nur noch etwas empfinden, wenn ich körperlichen Schmerz fühlte. Nach einer Weile waren mir sogar die kräftigsten Jungs aus dem Weg gegangen: Ich war einfach zu wild und kämpfte ohne Rücksicht auf Verluste. Irgendwann war ich dann aufgegriffen worden, und Tony hatte davon erfahren und mir darüber hinweggeholfen. Damals hatte ich dieselbe wahnsinnige Wut empfunden wie beim Basketball mit Angie. Doch ich wollte nicht, dass diese Wut von mir Besitz ergriff und ich anfing, die anderen Frauen im Gefängnis zu terrorisieren.
Also beugte ich mich über den Rand meines Bettes und fragte meine Zellengenossin, wie sie heiße und wann ihre Verhandlung sei. Solina, antwortete sie, und sie habe noch keinen Termin für die Verhandlung. Geduldig entlockte ich ihr ihre Geschichte. Sie begann von ihren Babys, ihrer Mutter und dem Vater ihrer Kinder zu erzählen und beteuerte, sie wisse, dass Crack nicht gut sei, aber es sei so schwer, damit aufzuhören, und letztlich wolle sie nichts anderes als ein gutes Leben für ihre Kinder.
Um neun beendete eine Lautsprecherdurchsage unser Gespräch. Es war Zeit fürs letzte Abzählen des Tages. Wir standen neben den Betten in unseren Zellen, während die Aufseher hereinschauten, uns nach unseren Namen fragten, sie auf ihrer Liste überprüften und uns für die Nacht einschlössen. Als das Licht ausging, kletterte ich auf das obere Bett und betete darum, dass Freeman von Mr. Contreras benachrichtigt werden würde, dass er herausfände, wo ich inhaftiert war und am Morgen mit der Kaution im Gefängnis erschiene.
Schließlich ließ die Erschöpfung mich in unruhigen Schlaf fallen; ich träumte die ganze Nacht von Kakerlaken. Hin und wieder wachte ich auf, weil eine Frau schrie, und angesichts meiner Ohnmacht begann mein Herz zu rasen.
Ich musste an Nicola Aguinaldo denken, die im Gefängnisflügel von Coolis auf einer Pritsche wie der meinen gelegen hatte. Sie musste sich noch viel hilfloser als ich gefühlt haben, weil sie weder einen Anwalt hatte,
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