Die verschwundene Frau
in kleine Stücke gehackt und ihn auf unterschiedliche Abfalleimer in ganz Chicago verteilt. Hat auf Notwehr plädiert, man stelle sich das mal vor, aber das hat der Richter ihr nicht abgekauft und ihr dreißig Jahre aufgebrummt. Jetzt hat sie sich der Religion zugewandt, und ein paar von den Aufsehern behandeln sie wie eine Heilige. Sie hat 'ne ganze Menge Einfluss auf die jungen Frauen hier; es zahlt sich also nicht aus, sich mit ihr anzulegen.«
Inzwischen waren wir in dem Flügel angekommen, in dem sich meine Zelle befand. Die Aufseherin signalisierte dem Wachmann am Kontrollschalter, uns durchzulassen. Sie wartete zusammen mit mir darauf, dass die erste Tür sich hinter uns schloss. Als die zweite aufging, machte sie sich wieder auf den Rückweg.
In dem Flügel befand sich zwischen dem Zellenblock und dem Wachhäuschen eine Dusche. Ich wusste, dass die Aufseher die Kameras auf die Duschen gerichtet hielten, und außerdem konnten sie jederzeit hineingehen, aber ich musste einfach meinen Schweiß und mein Blut abwaschen: Angie hatte mir ein paar ziemlich heftige Schlage versetzt. Mitten im Spiel - oder in diesem Fall im Kampf -bemerkt man die Verletzungen nicht. Doch später, wenn der Adrenalinstoß vorbei ist, beginnt dann alles weh zu tun.
Ich hatte keine Seife. Am Morgen hatte ich erfahren, dass man sogar die Grundausstattung wie Zahnbürste und Shampoo im Gefängnisladen kaufen musste. Doch dazu brauchte man Geld, und das musste man zuerst auf ein Treuhandkonto einzahlen. Natürlich war das ein hübscher Nebenerwerb für die Aufseher, denn als Gefangene ist man auf die Waren angewiesen, die dort angeboten werden, so dass sie zu willkürlich festgesetzten Preisen verkauft werden können. Selbst wenn die fünf Dollar, die ich noch hatte, für Toilettenartikel gereicht hätten, konnte ich mein Konto erst nach dem Wochenende eröffnen.
Also trocknete ich mich nur mit dem dünnen grauen Handtuch ab, das man mir bei meiner Ankunft gegeben hatte, und schlüpfte wieder in meine Hose. Sie roch alles andere als angenehm, passte aber wenigstens.
Um fünf mussten wir alle zum Abzählen in die Zellen und wurden anschließend in den Speisesaal geführt. Am Vortag war mir nicht klargewesen, dass man beeinflussen konnte, was man auf den Teller bekam, und dass es sogar Salat gab, wenn man wollte. An jenem Abend verlangte ich Salat und zusätzliches Brot, rollte den Salat in das Brot und aß beides, während ich zum Tisch ging. Dann versuchte ich es mit dem weichgekochten Fleisch und den Bohnen auf meinem Teller, ekelte mich aber immer noch vor den Kakerlaken. Wahrscheinlich, so dachte ich, würde ich einfach lernen müssen, ihnen keine Beachtung zu schenken, aber soweit war ich noch nicht.
Schon fünf Minuten nachdem ich mich gesetzt hatte, war ich als die Frau identifiziert, die »es Angie gezeigt« hatte. Die Frau, die mir gegenüber am Tisch saß, erklärte mir, ich solle lieber aufpassen, denn Angie gehöre zu den West Side Iscariots, und die wollten Rache. Eine andere meinte, sie habe gehört, ich habe Angie mit Karate besiegt, und ob ich ihr das nicht auch beibringen könne. Wieder eine andere mit bunten Zöpfen sagte, Miss Ruby habe gelogen, um meine Haut zu retten, aber drei Frauen, die das hörten, widersprachen sofort.
»Miss Ruby hat noch nie gelogen. Sie hat die Wahrheit gesagt. Cream hat kein Messer gezogen. Sie hat gesagt, Cream und Angie haben bloß Basketball gespielt, nicht gekämpft. Und das stimmt, hab' ich recht, Cream?«
»Tja, es war allerdings das kämpferischste Basketballspiel, das ich je erlebt habe«, sagte ich, und das schien ihr zu genügen.
Die Frau mit den Zöpfen sagte: »Nein, es stimmt - Angie hat Miss Ruby reingelegt, ihr das Shampoo aus der Dusche gestohlen, also hat Miss Ruby nur darauf gewartet, dass sie Angie eins auswischen kann. Deswegen hat sie sich für die Neue eingesetzt. Obwohl die weiß ist.«
Das führte zu einer heftigen Diskussion darüber, ob ich weiß oder eine Latina oder eine Schwarze sei. Die Frau, die mir den Spitznamen »Cream« gegeben hatte, beharrte darauf, dass ich schwarz sei. Mit meiner olivfarbenen Haut und meinen dunklen lockigen Haaren hätte ich alles sein können. Da es an den Tischen nur sehr wenige weiße Gesichter gab, gingen alle einfach davon aus, dass ich zur Mehrheit gehörte. Irgendwann einigten sie sich darauf, dass ich eine Latina sei.
»Nein, ich bin aus Italien«, erklärte ich schließlich. Nun folgten weitere Diskussionen darüber, ob
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