Die verschwundene Frau
Spiel als auch im Kampf. Ich konnte ihr durchaus Kontra geben. Tricks, die ich dreißig Jahre zuvor auf den Straßen der South Side gelernt hatte, als hätte ich mich erst tags zuvor auf der Commercial Avenue gegen einen Angreifer verteidigen müssen.
Jetzt jubelten die Zuschauerinnen bei jedem meiner Würfe. Das brachte Angie dazu, noch heftiger, aber auch noch undisziplinierter zu kämpfen, so dass sie kaum noch an den Ball kam. Ich wollte gerade zum Korb sprinten, als ich Metall in ihrer Hand aufblitzen sah. Ich ließ mich sofort auf den Boden fallen, rollte auf den Rücken und schlug ihr mit den Beinen die Füße unter dem Leib weg. Als ich aufsprang, um ihre Waffe wegzukicken, lag Angie bereits unter dem Korb, neben sich ein Messer, das sie aus einer Aluminiumdose gebastelt hatte.
Die Frauen, die uns zugesehen hatten, begannen durcheinanderzurufen und uns zum Kampf anzustacheln. Ein paar von ihnen hielten zu Angie und wünschten sich eine richtige Auseinandersetzung; die anderen wollten, dass ich ihr ein für allemal den Mund stopfte: »Ramm ihr das Messer rein, solang' sie am Boden liegt«, hörte ich eine brüllen. Ein Wachmann trat vor und hob das Messer auf, während ein anderer mich in den Schwitzkasten nahm. Ich wusste, wie man sich aus diesem Griff winden konnte, erinnerte mich aber noch gerade rechtzeitig, dass ich mich nicht wehren durfte. Die Aufseher hatten Elektroschocker am Gürtel und dazu - was schlimmer war - die Möglichkeit, mich länger in Coolis zu behalten, wenn ich aufbegehrte.
»Das Miststück hat mir das untergejubelt«, murmelte Angie.
Einer der Aufseher, der uns am lautesten angefeuert hatte, sagte, er werde uns beide auf die Liste setzen. Wenn man auf der Liste steht, bedeutet das, dass sich die Anzahl der Anklagepunkte für die Verhandlung erhöht. Und wenn man bereits im Gefängnis ist, landet man unter Umständen in Einzelhaft oder verwirkt das Recht auf vorzeitige Entlassung.
Während Angie und ich von den Wachleuten festgehalten wurden, meldete sich eine Frau in der Mitte der Zuschauergruppe zu Wort. Alle Anwesenden - Aufseher und Insassinnen gleichermaßen - hielten sofort den Mund. Die Frau sagte, es habe keinen Kampf gegeben, lediglich ein Basketballspiel, und sie wisse nicht, woher das Messer gekommen sei, aber ich habe es jedenfalls nicht gezückt.
»Stimmt«, pflichteten ihr mehrere Frauen bei. »Sie waren da, Cornish, Sie haben's gesehen. Sie haben gegeneinander gespielt. Angie muss auf ihrem eigenen Schweiß ausgerutscht sein.«
Cornish war ein Aufseher, der unser Spiel beobachtet hatte. Er fragte die Frau, ob sie sich sicher sei, denn wenn ja, würde er Angie und mich wegen des Feiertags nicht verwarnen.
»Ja, ich bin sicher. Aber jetzt hole ich mir was zu trinken. Es ist ganz schön heiß heute.« Sie war groß und hatte karamelfarbene Haut sowie dickes, allmählich ergrauendes Haar, das aus der Stirn gekämmt und zurückgebunden war. Als sie auf den Getränkeautomaten in der einen Ecke des Raumes zuging, teilte sich die Menge vor ihr wie einst das Rote Meer vor Moses.
Der Wachmann, der mich festgehalten hatte, ließ mich los, Ein paar Frauen kamen zu mir, um mir anerkennend auf die Schulter zu klopfen und mir zu sagen, sie seien von Anfang an auf meiner Seite gewesen. Andere wiederum, wahrscheinlich Frauen, die zu Angies Gang gehörten, bedachten mich mit bösen Blicken und Schimpfworten.
Aufseher Cornish packte mich am Arm und erklärte mir, ich müsse in meine Zelle zurück, um mich ein wenig zu beruhigen. Und wie war gleich noch mein Name? Warshawski? »Neu hier, was, und in U- Haft? Dann hast du hier nichts zu suchen, wenn die aus dem Gefängnis Sport machen. Die Mädels aus der U-Haft sind am Vormittag dran.« Ich machte den Mund auf, um zu sagen, man habe mich um drei Uhr heruntergeschickt, überlegte es mir dann aber anders. Du sollst das Schicksal nicht herausfordern, hatte meine Mutter mir immer geraten.
Eine Aufseherin - bisher hatte ich lediglich zwei oder drei weibliche Wachleute gesehen - wurde beauftragt, mich zurück ms Untersuchungsgefängnis zu eskortieren. »Da hast du aber Glück gehabt, dass Miss Ruby sich für dich eingesetzt hat. Sonst wäre deine Kaution sicher verdoppelt worden.«
»Miss Ruby? Wer ist denn das?«
Die Aufseherin schnaubte verächtlich. »Miss Ruby hält sich für die Königin von Coolis, weil sie schon so lange im Gefängnis ist, zuerst acht Jahre lang in Dwight, bevor sie das hier aufgemacht haben. Sie hat ihren Mann
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