Die verschwundene Frau
bewegen, mich zu distanzieren, nicht aggressiv zu werden.
Wenn ich etwas besonders Schlimmes beobachtete, versuchte ich, es mit meiner Armbandkamera zu fotografieren, doch die verbalen Beschimpfungen, die mit diesen Übergriffen einhergingen, konnte die Kamera natürlich nicht dokumentieren. Dafür hätte ich die Videokamera gebraucht, die mir schon in Georgia gute Dienste geleistet hatte. Es war ziemlich schwierig, sich nicht zu wehren, und führte bei mir dazu, dass sowohl meine Wut als auch meine Angst wuchsen.
Morrell hatte mir die Armbandkamera von Unblinking Eye an meinem zweiten Sonntag in Coolis gebracht. In dem Besucherraum voller Frauen und Kinder war es nicht so schwierig gewesen, meine Armbanduhr gegen die winzige Kamerauhr auszutauschen. Nun hatte ich eine Uhr, die Fotos machen konnte; allerdings bedauerte ich es, die andere weggeben zu müssen, denn die hatte mein Vater von seiner Mutter bekommen, als er vor fünfundfünfzig Jahren die Polizeischule abgeschlossen hatte.
Die winzige Kamera hatte mehr als vierzehnhundert Dollar gekostet. Zwar bezahlte Freeman meine Rechnungen, während ich mich in Coolis aufhielt, aber ich fragte mich, wie ich ihm das Geld je wieder zurückgeben sollte - meine Zeit im Gefängnis war mit Sicherheit keine gute Werbung für meine Detektei. Zumindest aber gab mir die Kamera das Gefühl, ein gewisses Maß an Kontrolle über die verrückte Welt zu haben, zu deren Teil ich geworden war.
»Siehst gut aus, Cream«, sagte Polsen, als ich ein paar Tage später den Sportraum betrat. »Besonders in Shorts. Ich wette, deine Muschi hat schon 'ne ganze Menge Besucher gehabt; da würde ich auch noch ganz gut reinpassen.«
Ich ging an ihm vorbei, ohne meine Schritte zu verlangsamen oder ihn anzusehen: Polsen hatte beschlossen, mein Feind zu werden, und im Augenblick blieb mir nicht viel anderes übrig, als so zu tun, als ihm keine Beachtung zu schenken.
Das Problem hatte mit dem Kampf in der Dusche begonnen: Er hatte ihn über die Monitore verfolgt und das Gefühl gehabt, um sein Vergnügen betrogen worden zu sein, als ich die beiden Angreiferinnen außer Gefecht setzte, bevor Schlimmeres passieren konnte. Besonders schlimm war seine Feindseligkeit am ersten Abend, an dem ich meine kleine Kamera hatte. Ich machte gerade meine Wäsche. Der Waschraum lag hinter dem Freizeitraum, und ich sah zusammen mit ein paar anderen Frauen fern, während ich darauf wartete, dass meine Sachen fertig wurden.
An jenem Abend hatte Polsen Dienst. Er rief Dolores aus dem Raum. Ihre resignierte Körperhaltung und ihr deprimiertes Gesicht veranlassten mich, ihr wenig später in den Waschraum zu folgen.
Polsen stand hinter der Tür und versuchte, ihr die Jeans herunterzuziehen. Dolores wehrte sich flüsternd: »Nein, bitte tun Sie's nicht, tun Sie's nicht. Ich sag's dem Lieutenant.« Aber er lachte nur und sagte, sie sei ein Stück Dreck, niemand würde ihr glauben. Wenn sie den Mund aufmachte, würde sie in null Komma nichts in Einzelhaft landen. Ich hatte am Nachmittag bereits mit meiner Armbandkamera geübt und fotografierte die Szene jetzt. Wieder bedauerte ich, dass ich mit dem Gerät den Ton nicht aufnehmen konnte. Als Polsen den Blick hob, drehte ich mich rasch um und holte meine Kleidung aus der Waschmaschine. Daraufhin ließ er Dolores los, die aus dem Raum und wieder zurück in Richtung Gefängnisflügel lief. Polsen sah mich bitterböse an.
Als ich wieder in den Gemeinschaftsraum kam, wichen die Frauen, die bis jetzt ferngesehen hatten, vor mir zurück: Sie wussten alle, warum Polsen Dolores gerufen hatte, und hatten uns drei im Waschraum beobachtet. Sie wollten von Polsen nicht als meine Helferinnen eingestuft werden.
In meiner Zelle schrieb ich einen genauen Bericht über das, was ich beobachtet hatte, mit Datum und Uhrzeit, den ich zwischen die Seiten eines Cosmopolitan-Heftes aus dem Gefängnisladen steckte. Als Freemans Praktikantin mich am nächsten Tag besuchte, um mir zu sagen, dass meine Verhandlung für die letzte Septemberwoche festgesetzt worden war, gelang es mir, ihr das Heft inmitten eines Stapels anderer Dokumente zuzuschieben. Ich bat sie, das Magazin mitzunehmen und für mich aufzubewahren. Zwar wusste ich noch nicht so genau, welche Verwendung ich für meine Aufzeichnungen finden würde, aber ich wollte sie keinesfalls in meiner Zelle verstecken, denn während der kurzen Zeit, die ich nun in Coolis war, hatte man die schon zweimal durchsucht.
Bevor die Praktikantin ging,
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